2008
„Runde“ Jahrestage und Einschnitte in der Geschichte Calbes für 2008
Erschienen im Januar 2008
1433 (16. Okt.) Die Magdeburger Truppen stürmen die Stadt, weil Erzbischof Günter der Hansestadt Freiheitsrechte nehmen will und sich hier in Calbe verschanzt hat. Die Siegesbeute wird auf 480 Ochsenkarren weggefahren. Sicherlich danach beginnt der Neuaufbau der Stephanskirche als spätgotische Hallenkirche.
1658 Der von Gottfried Gigas geschnitzte neue Roland kann nach zwei Jahren des Streites zwischen dem Rat der Stadt Calbe und dem landesherrlichen Schlossamt endlich aufgestellt werden.
Der gleiche Meister beginnt mit dem Schnitzen des barocken Hochaltars, der 1659 fertig wird und von dem noch einige Figuren erhalten sind.
1683 (16. März) Großbrand in Calbe, bei dem ein Großteil des Häuser- und Scheunenbestandes (einschließlich Schlossvorstadt) vernichtet wird.
1708 Der Rechtsbeistand des Magistrats (- der „Rat“ wird seit diesem Jahr als „Magistrat“ bezeichnet -) Johann Friedrich Reichenbach (Ritterstraße 1) wird Erster Bürgermeister.
Am Schloss werden aus Gründen preußischer Sparsamkeit alle Erker und Türme (bis auf einen) entfernt. Übrig bleibt ein schmuckloser Kasten.
Ein junger Jude wird in Calbe evangelisch getauft, um ihm das Los der Bettelei zu ersparen.
1808 Calbe kommt zum neu gegründeten Königreich Westfalen (unter französischer Herrschaft) und lernt dadurch die Vorzüge bürgerlich-demokratischer Verwaltung und Gesetzgebung kennen.
1833 Die gemäßigt-liberale Kreiszeitung „Gemeinnütziges Wochenblatt“ (später „Stadt- und Landbote“), die erste Zeitung in Calbe, wird herausgegeben.
1858 Ablösung der Erbpacht für die Fischer von Calbe. Aus Hörigen werden freie Handwerker. Ihre jahrhundertealte Nicolai-Brüderschaft lassen sie jedoch bestehen.
Auf dem Kirchplatz wird eine neue Schule errichtet (an der Stelle des heutigen Parkplatzes).
Calbe bekommt eine Gasanstalt und Gasbeleuchtung.
1883/84 Bau des „Rettungshauses“ (nördlich vor „Bartels Hof“), einer Erziehungsanstalt für verwahrloste Mädchen aus der preußischen Provinz Sachsen.
1908 Beginn der allgemeinen Elektrifizierung Calbes durch die „Thüringer Gasgesellschaft“ in Leipzig.
1918 Ende des Ersten Weltkrieges, 393 Gefallene in Calbe (mit den nach Kriegsende verstorbenen Schwerverwundeten 420), viele Hunger- und Seuchentote, „Kriegskrüppel“; Unternehmenspleiten, Kapitalflucht, Arbeitslosigkeit und Wohnungsmangel. Calbe sinkt auf das Niveau des „erbärmlichsten Städtchens des Kreises“(„Staßfurter Zeitung“) herab.
Novemberrevolution: Calbe wird SPD-Hochburg („Das rote Calbe“).
1933 Nachkriegskrisen, Inflation, Pleiten und Arbeitslosigkeit lassen das einst „rote Calbe“ 1932 und 1933 mit überdurchschnittlich hohem Anteil die NSDAP wählen.
1958 Calbe erreicht mit fast 18000 Einwohnern die bisher höchste Einwohnerzahl.
1983 Sprengung des 1894 erbauten Wasserturmes.
Das Geheimnis der Turmknöpfe auf der Stadtkirche St. Stephani nach 162 Jahren gelüftet
Erschienen im Januar 2008
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Man könnte meinen, die Muse der Geschichtsschreibung, Klio, hätte eine ihrer Büchsen aufgemacht (- Gott sei Dank nicht die Büchse der
Pandora -), als die „Zeitkapsel“ des Turmknopfes auf der Stadtkirche „St. Stephani“ geöffnet wurde. Nachrichten aus einer Zeit, die schon längst zur Lehrbuch-Geschichte gehört, aus einer Zeit, in der Marie Nathusius und Wilhelm Loewe noch lebten, sind in der Kapsel für uns hinterlegt worden.
Immer wieder wurde von einer interessierten Öffentlichkeit nachgefragt, was uns denn da im Einzelnen eigentlich hinterlassen wurde.
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Nun ist es soweit. Das Material ist gesichtet, und es wird von der Evangelischen Kirchengemeinde Calbe und Herrn Pfarrer Wenzlaff für eine Ausstellung in der Heimatstube Calbe zur Verfügung gestellt. Diese Schau der Fundstücke soll am 17. Februar eröffnet werden. Selbstverständlich versuchen die Heimatfreunde, alle Exponate unter dem Thema „Biedermeierliche Gemütlichkeit und bürgerliches Aufbegehren“ ausführlich zu erläutern und in einen historischen Kontext zu stellen.
Die Stadtväter hatten im Juni 1845, als der Turmknopf nach einer Reparatur an den Turmspitzen wieder verschlossen wurde, über 20 Schriftstücke deponiert, sowohl Handschriften als auch eine ganze Reihe Presseerzeugnisse. Besonders wertvoll ist u. a. die Abschrift eines 1845 schon stark vermoderten Papiers, einer „Nachricht“ aus dem Jahre 1678, als das gesamte Dach der 1495 fertiggestellten Kirche erneuert werden musste.
Was bewegte die Menschen unserer Stadt drei Jahrzehnte nach dem Dreißigjährigen Krieg und zwei Jahre vor der Machtübernahme Brandenburg-Preußens? Wie sah es in Calbe 1845, drei Jahre vor der Revolution 1848/49, aus? Welche wirtschaftlichen Schwierigkeiten hatten die Calbenser? Wo standen sie politisch im Sog der allgemeinen bürgerlichen Oppositionsbewegung?
Kommen Sie und lassen Sie sich in längst vergangene Zeiten versetzen!
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
9. Kaiser Karl IV. und Erzbischof Dietrich (Portitz)
Erschienen im Februar 2008
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Kaiser Karl IV. und Erzbischof Dietrich |
Nach den düsteren Zuständen im Zusammenhang mit Burchard III. wendete sich 1361 das Blatt für Calbe grundlegend. Der nach Wichmann bedeutendste Förderer und Wohltäter der mittelalterlichen Stadt Calbe, Dietrich Portitz (um 1300 – 1367) wurde Magdeburger Erzbischof. Sein Wirken ist eng verbunden mit der Persönlichkeit Kaiser Karls IV. (1316 – 1378). Mit 31 Jahren war der Tscheche Vaclav (Wenzel) böhmischer König geworden. Bei der Festigung seiner Macht half ihm ein Ideal. Während der Zeit seiner Vorbereitung am französischen Hof (1323 – 1330) hatte er nicht nur den fränkischen Herrschernamen "Karl" angenommen, sondern auch den seit dem 12. Jahrhundert wirkenden Kult um Karl den Großen und seinen Paladin Roland von der Bretagne kennen gelernt und verinnerlicht. 1355 wurde Karl in Rom zum Kaiser gekrönt. Der fähige Herrscher, der durch eine geschickte Hausmacht- und Heiratspolitik sowie durch gesetzliche Regelwerke (z. B. die „Goldene Bulle“) von sich reden machte, hatte zwei Ziele vorrangig im Auge: die Schaffung stabiler (kaiserlicher) Machtverhältnisse im Reich und die Stärkung der Wirtschaft darin. Dabei gab er der Diplomatie gegenüber der militärischen Gewalt den Vorzug. Sein zweites Reichszentrum (neben Prag) verlegte er in unsere Nähe, nach Tangermünde.
Bei der Verwirklichung dieser Ziele stand ihm ein Wirtschafts- und Finanzfachmann ersten Ranges als Berater und Freund zur Seite, der oben erwähnte Dietrich Portitz. Dieser stammte aus einer Stendaler Bürgerfamilie. Der Zisterziensermönch erhielt verschiedene geistliche Ämter und wurde 1347 vom König in den Staatsdienst aufgenommen. Nach der Krönung Kaiser Karls IV. wurde Dietrich Portitz Kanzler von Böhmen und gleichzeitig der Stellvertreter des Kaisers im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Als des Kaisers „rechte Hand“ bekam er 1361 das Amt des Erzbischofs von Magdeburg. Ihm gelang es, die verpfändeten Burgen und Schlösser wieder an das Magdeburger Erzstift zu bringen. Mit Hilfe der Landfriedensurkunde von 1363 versuchte er, das Fehden-Unwesen der kleinen Herrscher mit dem Ziel eines starken Kaisertums zu bekämpfen, wobei ihn die Magdeburger, Calbenser und Altmärker mit Kriegs-Mannschaften unterstützten. In den sechs verbleibenden Jahren seit seinem Antritt als Magdeburger Landesherr hat Dietrich Portitz mehr für Calbe getan als die Erzbischöfe in hundert Jahren vor ihm.
Mit Hilfe seines Vermögens wurde in Calbe ein Schloss in der Nähe der neu aufgebauten Saalebrücke als Sommersitz der erzbischöflichen Landesherren und als politische Tagungsstätte gebaut (- heute das Areal des Schiller-Gymnasiums -) sowie die Stadt durch Einrichtung neuer Wohn- und Produktionsgebiete um rund die Hälfte der Fläche erweitert. Die ursprünglich dürftige Stadt-Befestigung wurde durch doppelte hohe Mauern ersetzt und 4 neue Türme (insgesamt 7) errichtet. Zu dieser Zeit konnten sogar Juden Bürger in Calbe werden. Auf Karl IV. und Dietrich Portitz geht mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Errichtung des Rolands von Calbe als Zeichen kaiserlicher Gerichtsbarkeit zurück. Eine Zeit der zweiten wirtschaftlichen Blüte Calbes folgte.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
10. Die Simon Hackes und das Rittergeschlecht der von Hackes
Erschienen im Juni 2008
Das Rittergeschlecht derer von Hacke (Hake) hatte sich vom Mansfelder und Merseburger Gebiet bis nach Brandenburg ausgebreitet. Nach Theodor Fontane ("Wanderungen durch die Mark Brandenburg") stammten die Ha(c)kes ursprünglich aus Franken. Hans von Hacke schrieb man jene bekannte Anekdote zu: Der Ritter hatte bei dem berüchtigten Dominikanerprediger Johannes Tetzel einen Blanko-Ablassbrief für einen noch zu begehenden Raub erstanden. Als Tetzel mit seinem Gefolge auf der Heide zwischen Jüterbog und Trebbin dahin zog, preschte eine schwarz vermummte Reiterschar heran und brachte das von dem päpstlichen Kommissar ergaunerte Geld an sich. Tetzel zeterte und drohte mit allen Strafen des Himmels. Da ließ der Anführer die Maske fallen und zeigte den Ablassbrief, gegen den selbst sein Initiator, der Papst, machtlos war. Ob es sich wirklich so zugetragen hat, wird in der Geschichtswissenschaft stark angezweifelt. Tatsache ist, dass einige Hackes tatkräftige Förderer der Reformation waren, besonders der Ritter Albrecht von Hacke. In Calbe lässt sich schon 1162 ein erzbischöflicher Ritter Dietrich von Haken nachweisen. Einer der Simon Hackes (- mit diesem Namen gab es drei in Calbe -) war von 1498 bis 1520 Schlosshauptmann, das heißt, der Stellvertreter (Vogt) des Erzbischofs im hiesigen Amtsbezirk in allen weltlichen Dingen. In Abwesenheit des Landesherrn oblagen ihm jegliche ökonomischen, politischen, juristischen, sozialen und militärischen Angelegenheiten. Da Calbe den Magdeburger Erzbischöfen direkt (immediat) unterstand, maßten sich auch deren Vögte an, in die Belange der Stadt mit hinein zu regieren, was wiederholt zu Streitigkeiten mit der Bürgerschaft führte, die auf den Begriff „immediat“ pochte. Der erste Simon Hacke war 1446 Besitzer des Rittergutes in Calbe geworden, dessen Sitz (zentrales Gebäude) das Haus Ritterstraße Nr. 1 war. Als Zeichen der ritterlichen Macht in der feudalen Enklave inmitten der bürgerlichen Stadt war neben dem Hofeingang nicht nur das Wappen, sondern auch ein eigener Pranger mit Halseisen für ihre Leibeigenen angebracht. Die Hackes trugen in ihrem Wappen symbolisch einen Haken. Der zweite Simon Hacke war der Stifter der Wrangelkapelle (1495) an der St.-Stephani-Kirche. An ihr ist das Hackenzeichen noch deutlich an den Ecken der Traufsteine neben den Dachrinnen zu sehen. Im 18. Jahrhundert waren einzelne Vertreter dieses Geschlechtes schon in den Grafenstand erhoben worden. Einige hatten den Posten des Salzgrafen in Staßfurt inne („Hackesches Haus“). Die "Hackeschen Höfe" in Berlin-Mitte gehen auf den aus Staßfurt stammenden Grafen Hans Christian Friedrich von Hacke zurück, der Stadtkommandant von Berlin und ein Vertrauter Friedrichs II. war.
Nachtrag zum 10. Persönlichkeitsartikel über die von Ha(c)kes
Erschienen im Juni 2008
Die „Thüringische Chronica“ von Zacharias Rivander (1581) und das „Theatrum Saxonicum“, Teil 1(1618), von Lorenz Peckenstein berichten, dass ein sächsischer Ritter namens Hakge, der auf der Sachsenburg an der Unstrut diente, im 6. Jahrhundert die 33 km entfernt liegende fränkische Burg Scheidingen (heute Burgscheidingen bei Nebra) für die Sachsen erobert hatte. Dafür durfte er für sein Geschlecht ganz in der Nähe der Sachsenburg einen Stammsitz, die Hakenburg (heute bei Sachsenburg-Oldisleben), errichten. Ein heftiger Besitztumsstreit mit den Grafen von Beichlingen zwang die Hak(g)es zur Auswanderung. Sie tauchten dann in der Mark Brandenburg, wo sie sich bei der Eroberung slawischer Gebiete hervortaten, und im Bistum Merseburg auf. Der Spruch: „Wer ein Hake werden will, der krümme sich beizeiten“, bezog sich angeblich auf eine kämpferische Heldentat eines märkischen Knappen aus dem Hake-Klan. All das sind aber Legenden, die bislang nicht durch Urkunden abgesichert werden konnten.
Erst im 14. Jahrhundert ist die Quellenlage hinreichend: Die Hakes saßen auf Gütern in Dölzig, Oberthau und Kitzen in der Nähe von Leipzig. Diese ritterbürtige (altritterliche) Familie war mit der Adels-Sippe v. Peust in Wehlitz (heute Stadtteil von Schkeuditz) verwandt, weshalb sich ihre Mitglieder – auch die in Calbe - „Hake, genannt die Peusten“ nannten. Von Oberthau und Kitzen aus setzte sich ein Zweig der Hake-Peusten in Calbe fest, wo dessen Oberhäupter das „Burggut“ verwalteten (G. A. v. Mülverstedt: Hacke VI, merseburgisch, in: Der Neue Siebmacher). Mit der „Burg“ war der alte Königshof und nachfolgende Erzbischofssitz nahe der St.-Stephani-Kirche gemeint. Dessen Gebäude dienten bis weit in das 15. Jahrhundert hinein auch noch nach dem Bau der neuen Schlossfeste (heute Gelände der Schillerschule) seit den 1360-er Jahren als deren Verwaltungs-„Außenstelle“. Der Schlosskomplex war nach einem Jahrhundert Bauzeit immer noch zu klein, um zusätzlich neben den erzbischöflichen Wohn- und Repräsentationsräumen die Amtseinrichtungen mit aufzunehmen (Adolf Reccius, Chronik… 1936, unter 1459).
Später wurde aus dem Burggut Calbe das Rittergut, dessen Herrensitz noch heute in einem bedauernswerten Zustand in der Ritterstraße 1 steht. Um 1600 verkauften die von Ha(c)kes, die mindestens anderthalb Jahrhunderte im Besitz des Gutes gewesen waren, dieses an das Herren-Geschlecht derer von Ingersleben. Die calbischen Hacke-Peusten ließen sich u. a. in Staßfurt nieder, wo sich einigen von ihnen eine beachtliche Karriere eröffnete (vgl. CB 6/08). Bis zum 18. Jahrhundert hatte sich das weit verzweigte Ritter- und Grafen-Geschlecht auch noch nach Sachsen, Schlesien und Pommern ausgebreitet (Neues preußisches Adelslexicon… 1836. Joh. Heinr. Zedler: Großes vollständiges Universallexicon…, Bd. 12, 1731).
Häufige Irrtümer im Geschichtswissen über Calbe (Teil 1) (Neue Serie)
Erschienen im Februar 2008
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Gewandschneider 1460 |
1. In Gottesgnaden lebten im Mittelalter keine Mönche, sondern Kanoniker (adlige Stiftsherren) und Konversen (Laienbrüder), weil „Gratia Dei“ ein Stift und kein Kloster war. Später bezeichnete der Volksmund die Gottesgnadener Prämonstratenser als Mönche, und die Anlage erhielt dann allgemein die Bezeichnung „Kloster“.
2. Calbe wurde nicht 1168 zur Stadt erhoben, sondern hatte in den 1160-er Jahren den Status einer Stadt bekommen. Eine undatierte Urkunde des Erzbischofs Wichmann, in der die Calbenser als Marktbürger bezeichnet werden, muss zwischen 1100 und 1168 entstanden sein.
3. Gewandschneider waren keine Konfektionsschneider, sondern Tuchhändler, die das Recht hatten, in ihrem „Gewandhaus“ die gefalteten (gewendeten) Tuchballen in kundengerechte Stücke zu schneiden. Sie wurden die reichste Fraktion im städtischen Bürgertum und stiegen meist ins Patriziat auf. Das Gewandhaus („Theatrum“) in Calbe stand gleich (nördlich) neben dem Rathaus.
4. Die Stadtkirche „St. Stephani“ geht nicht auf den Frauen-Namen „Stephanie“ zurück, sondern bezeichnet den zweiten Fall (Genitiv) des Männernamens Stephanus. Stephanus oder Stephan war der erste Märtyrer der christlichen Kirche. Man hatte ihn wegen seines Glaubens um 40 nach Christus gesteinigt.
5. Die 14 Figuren an der Trauflinie der Stephanskirche sind keine Wasserspeier, weil in sie weder ein Kanal noch eine Röhre zur Wasserableitung eingearbeitet worden war. Man bezeichnet solche Gestalten zur Abwehr des Bösen im Allgemeinen als Chimären, Drôles oder Himmelswächter.
Häufige Irrtümer im Geschichtswissen über Calbe (Teil 2)
Erschienen im April 2008
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6. Das auch in Calbe im Mittelalter in manchen Fällen bei Totschlag zu zahlende Wergeld hat nichts mit „Wehren“ zu tun. Der Brauch stammte aus germanischer Zeit. Durch Sühneverträge konnte im Falle eines Totschlags die Fehde abgewendet werden. Kam ein solcher Vertrag zustande, hatte der Täter gewöhnlich neben anderen Sühneleistungen an die Angehörigen des Getöteten eine Abfindung (Wergeld = Manngeld) zu zahlen. Im Althochdeutschen hatte „Wer“ die Bedeutung von „Mann“ (lat. „vir“). Erst nach dem Inkrafttreten der Hals- oder Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. 1532 wurde der Brauch, Sühneverträge zu schließen, durch staatliches Strafrecht abgelöst.
7. Der „Schwarze Tod“ raffte in Calbe nach derzeitigem Forschungsstand erstaunlicherweise kaum Menschen hinweg. Als „Schwarzen Tod“ bezeichnete man das plötzliche und verheerende Auftreten einer Pandemie, in der 1347 bis 1353 mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung das Leben verlor. Nach neueren Theorien hatte es sich dabei nicht um die Beulenpest, sondern eventuell um ein hämorrhagisches Fieber (ähnlich Ebola) gehandelt. Von der abgeschwächten Form des Schwarzen Todes (oder der echten Pest?) wurde Calbe dann im 16. und 17. Jahrhundert achtmal mit erheblichen Bevölkerungs-Verlusten heimgesucht.
8. Luther überbrachte seine Thesen nicht im Schloss Calbe, wie desöfteren vermutet wurde. Er schickte dorthin 1517 und 1521 an Erzbischof Albrecht gerichtete Briefe mit seinen Bedenken über die Ablass-Praxis, die jedoch nicht bzw. abschlägig beantwortet wurden.
Häufige Irrtümer im Geschichtswissen über Calbe (Teil 3)
Erschienen im Juli 2008
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9. Der Roland von Calbe ist nicht der einzige mit Helm. Es gibt derzeit von den noch erhaltenen und erneuerten „echten Rolanden“ 34, im deutschen Raum 8 andere behelmte Rolandfiguren.
10. Die Wappenfarben der Stadt Calbe sind nicht blau und weiß, sondern rot und weiß. Der Fehler geht auf den verdienstvollen Heimathistoriker Gustav Hertel zurück, der die Fahne der Calber Schützen mit der Stadtfahne verwechselte (- urkundliche Nachweise von K. Herrfurth).
11. Ursula Wurm war nicht die letzte Frau, die als „Hexe“ hingerichtet wurde, wie immer wieder angenommen wird. Sie war es weder in Europa noch in Deutschland, und sie war auch nicht der letzte Mensch, der sein Leben wegen „Hexerei“ auf dem Scheiterhaufen beenden musste. 1688 verbrannte man in Calbe wegen eines Teufelspaktes den lahmen Schneider Stoppel. Anna Schnidenwind wurde 1751 in Endingen (Baden) verbrannt. Maria Schwägeli gilt als die letzte deutsche Frau, die 1775 als "Hexe" in Kempten (Allgäu) enthauptet worden war. Anna Göldi, die „letzte Hexe Europas”, wurde 1782 im schweizerischen Glarus mit dem Schwert hingerichtet.
Häufige Irrtümer im Geschichtswissen über Calbe (Teil 4)
Erschienen im August 2008
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12. „1656 wollte der Rat den neuen Roland nicht annehmen, weil er zu kurze Arme hatte.“ Diese Legende wurde von dem Orts-Geschichtspublizisten Wilhelm Oswald Richter (1889-1965) im 20. Jahrhundert in die Welt gesetzt. Archivrecherchen Klaus Herrfurths brachten ans Licht, dass es gar keine Weigerung des Rates gab, das im Herbst 1656 angefertigte tadellose Werk des Meisters Gottfried Gigas, der 1658/59 auch die Figuren des Hochaltars in der Stadtkirche geschnitzt hat, anzukaufen. Vielmehr wurde laut Kämmereirechnung der Roland tatsächlich ohne Beanstandungen gekauft und alles zu seinem Schutz organisiert. Aber es gab einen Streit zwischen dem Schlossamt (als Vertretung des Administrators) und dem Rat der Stadt um die Rechtmäßigkeit der Aufstellung des neuen Rolands. Die Beamten des Landesherrn weigerten sich, die Handlungsweise des Rates anzuerkennen, weil sie darin – wohl zu Recht - ein Wiederaufleben der städtischen Autonomiebestrebungen sahen. Erst 1658 kam es zu einem Kompromiss, und beide Seiten versicherten, die bisher verankerten Rechte der Gegenpartei unangetastet zu lassen. Es ging also bei dem zwei Jahre dauernden Streit nicht um künstlerisch-ästhetische, sondern um politisch-exekutive Belange, und er wurde nicht zwischen Rat und Meister, sondern zwischen Rat und Amt geführt.
Übrigens: Die Proportionsmängel, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich zu erkennen waren (s. Abb.) und auf denen W. O. Richters Fantasie-Erzählung aufbaut, haben ihre Ursachen in Reparaturarbeiten, die 1817 ein Laie, der Maurermeister Ruthe – und wohl nach ihm noch einige andere gutwillige „Restauratoren“ – wegen voranschreitenden Verfalls an der Figur ausführten.
Calbe und die Eisenbahnen (Teil 1: Calbe-Bernburg-Könnern)
(Unter Verwendung manuskriptschriftlicher Forschungsergebnisse von Manfred Zander) (Neue Serie)
Erschienen im März 2008
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Bahnhof Calbe-West um 1900 |
Calbe gehört zu den deutschen Städten, die als erste mit Eisenbahnen in Berührung kamen. Am bekanntesten ist die Tatsache, dass schon 1839 eine Lokomotive mit Personenwagen in Grizehne (heute: Calbe/Ost) vor einem staunenden, aber auch ängstlichen Publikum auftauchte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bekam die Kreisstadt Calbe noch einen weiteren Bahnhof am westlichen Stadtrand und zwei neue, sie tangierende Bahnlinien. Am Anfang waren die Calbenser von dem neumodischen Unfug nicht gerade begeistert. In einem Dokument von 1845, das 2007 bei der Öffnung des nördlichen Turmknopfes der Stadtkirche „St. Stephani“ zutage kam, heißt es noch: „Seit dem Jahre 1839 wird die von Magdeburg nach Leipzig führende Eisenbahn, welche das Vorwerk Gritzehne berührt, befahren; doch ist für Calbe kein Nutzen daraus erwachsen.“ Das aber änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend. Das deutsche Eisenbahnnetz wurde entscheidend für das Aufblühen von Industrie, Landwirtschaft und Handel, aber auch für die Militärstrategie.
Die drei für Calbe wichtigen Eisenbahnlinien sollen in einer kleinen Serie kurz vorgestellt werden, wobei wir wegen der neuen Kreis-Konstellationen die zuletzt angelegte vorziehen: die Linie Calbe–Bernburg–Könnern.
1879 war der Stadtbahnhof „Calbe an der Saale“ (heute: Calbe/West) für die später noch zu besprechende strategische Bahnlinie Berlin-Güsten–Nordhausen–Metz (Lothringen) errichtet worden. Von der ersten Bahn (Magdeburg–Leipzig) zur zweiten (Berlin-Nordhausen) legte man 1882 im Bogen ein Gleis zwischen dem Bahnhof Grizehne und dem Stadtbahnhof, auf dem zunächst nur Güterzüge fuhren, das aber 1890 auch für den Personenverkehr frei gegeben wurde („Verbinder“ genannt). Und 1887 bis 1890 baute man dann schließlich die Eisenbahnlinie Calbe-Nienburg–Bernburg–Könnern.
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1890 und 2008 |
Schon 1846 war mit herzoglichem Einverständnis die Eisenbahn Köthen-Bernburg gebaut worden. Nachdem man in der Folgezeit Bahnstrecken in den Harz, vornehmlich auch für den Schlösser- und Hotel-Tourismus der Herzogsfamilien und betuchter Reisender, gebaut hatte, drängten Industrielle und Gewerbetreibende aus Bernburg immer stärker auf eine direkte Bahnverbindung nach Halle und Magdeburg. Die zweite Phase der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Entwicklung der hiesigen Chemie- und Montan-Industrie und der damit verbundene Kalk- und Salzbergbau sowie das Einsteigen des belgischen Solvay-Konzerns ins Bernburger Soda-Geschäft im Jahr 1881 machten den raschen Ausbau von Eisenbahnen mit Neben- und Werksstrecken in und um Bernburg notwendig. Durch den Übergang der anhaltinischen Gebiete an die preußische Staatsbahn war es möglich geworden, 1887 eine Bahnlinie von Baalberge (nahe dem Schacht „Solvay-Hall“, heute: Friedenshall) nach Könnern zu bauen. „1889 ging die Strecke Bernburg-Nienburg in Betrieb… 1890 konnte man von Bernburg bis Calbe/Stadt fahren und bald darauf auch über die Verbindungskurve zum Bahnhof Grizehne (Calbe/Ost).“ (M. Zander)
Der Besitzer eines Muster-Gutes im Süden vor Calbe hatte es verstanden, die staatlichen Behörden durch gute Beziehungen so zu beeinflussen, dass die neue Bahnlinie nicht nur an seinem Gutshof vorbei führte, sondern dort auch für den Transport landwirtschaftlicher Güter gehalten werden konnte. Es handelte sich um Otto Bartels und seinen 1884/85 errichteten "Bartelshof" mit einem schlossähnlichen Gutshaus im Neorenaissance-Stil. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in der Nähe des Überganges des Brumbyer Weges über die Bahnlinie Calbe-Bernburg neben der Straße ein Nebengleis zur damals mit großer Kapazität produzierenden Zuckerfabrik Calbe gelegt.
1895 bis 1990 fuhren täglich drei Personenzüge zwischen Grizehne und Könnern auf der eingleisigen Strecke hin und zurück, zwischen Grizehne und Bernburg waren es zwei.
Als das Niederschachtofenwerk Calbe/S. nach 1950 entstand, pendelten dem Drei-Schicht-System angepasste Züge zwischen Bernburg und Calbe/Ost (Grizehne). Aber auch die in Bernburg und Nienburg errichteten Zementfabriken nutzten neben dem Wasserweg zunehmend diese Eisenbahnstrecke. Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Bedarf an Zement enorm anstieg, wurde der Bindemittel-Stoff nicht mehr in Papiersäcken mit Rangierwaggons transportiert, sondern in Silowagen und Ganzzügen. „1990 mit der Wiedervereinigung änderte sich das schlagartig. Der Güterverkehr ist völlig von dieser Strecke verschwunden. Für den Reiseverkehr pendeln zwischen Bernburg und Calbe/Saale Ost im Zweistunden-Takt fast leere, teilweise auch ganz leere Triebwagen der DB. Die Zukunft der Strecke ist ungewiss.“ (M. Zander)
Seit 2005 wird die Strecke Bemburg-Könnern von der privaten Bahn „HarzElbeExpress" der „Veola“-Gruppe genutzt. Im „Bahnhof Calbe(Saale) West ist nur noch ein Gleis zum Durchfahren und zum Halten am Bahnsteig betriebsbereit. Dafür sind an beiden Seiten noch die alten Stellwerke in zwei Schichten besetzt, um die Signale zu stellen.“ (M. Zander. Seine umfangreiche Ausarbeitung zur regionalen Verkehrsgeschichte kann in der Heimatstube Calbe/Saale eingesehen werden.)
Die liebevoll-spöttisch „Ferkeltaxen“ genannten Schienenbusse der DR wurden 2002 auf dieser Strecke von Triebwagen der DB abgelöst, und seit 2008 fahren hier Wagen der DB-Tochter „Burgenlandbahn“.
Calbe und die Eisenbahnen (Teil 2: Magdeburg-Köthen-Leipzig)
(Unter Verwendung manuskriptschriftlicher Forschungsergebnisse von Manfred Zander)
Erschienen im Mai 2008
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Calbe war eine der ersten deutschen Städte, die mit
dem neuen, mit Hilfe von Dampfmaschinen angetriebenen Verkehrsmittel, der
Eisenbahn, in Berührung kamen. Im April 1837 konstituierte sich in Magdeburg die
Aktiengesellschaft „Magdeburg-Leipziger Eisenbahn“ („M. L. E.“), und im November
desselben Jahres wurde mit „Allerhöchster Kabinets-Odre" der Bau der Bahn
genehmigt.
Das für die Streckenführung notwendige Ackerland kaufte die Direktion der
Magdeburg-Leipziger Bahn den Besitzern für 225 Taler je Morgen ab. Der Baubeginn
erfolgte am 24. Januar 1838. Zum Trassen-Bau setzte man Tausende von Arbeitern
ein, was nicht nur zu logistischen, sondern auch zu sozialen Problemen führte.
Noch nie hatte die Gegend so viele Arbeitermassen konzentriert auf engem Raum
gesehen. Tumulte und sogar schon ein Streik beunruhigten die Bewohner der sonst
so beschaulichen Landschaft.
Die MLE war die erste länderübergreifende Fern-Eisenbahn, denn sie führte von
Magdeburg (Königreich Preußen) durch das Herzogtum Anhalt-Köthen nach Halle
(wiederum Preußen) und schließlich nach Leipzig (Königreich Sachsen). Mit der
Konzession gab es gleichzeitig eine abgestimmte gesetzliche Regelung für die
Grenzüberschreitung, die unter anderem vorsah, dass die Passkontrolle im Zug
erfolgen sollte. (Wie die Pässe aussahen, konnte man in der Ausstellung des
Inhaltes des nördlichen Kirchturmknopfes in der Heimatstube vom 17.2. bis
30.3.2008 sehen.) Am 30. Juni 1839 rollte der erste Eisenbahn-Zug von Magdeburg
bis Schönebeck, und schon im Juli gab es das erste Unglück, als der Zug aus
Schönebeck in Magdeburg ungebremst auf den Prellbock fuhr.
Bei der Planung war vorgesehen, die Strecke parallel zur Landstraße
Schönebeck-Calbe zu bauen. Zwischen den beiden Städten liegt die Gemarkung
Mühlingen, und diese gehörte damals zu Anhalt-Bernburg. Der 34-jährige Regent,
Herzog Alexander Carl, wollte aber das „gefährliche Vehikel“ nicht durch sein
Land fahren lassen. Und so musste die MLE-Gesellschaft beim Streckenbau einen
Bogen um die anhaltinische Exklave machen. Nun wurde der Bahndamm östlich vom
Erlenteich dicht an der Grenze der Gemarkung Mühlingen vorbeigeführt. Auch der
Bahnhof für Calbe ist deswegen ca. 3 km vom Stadtzentrum entfernt.
Am 9. September 1839 stellte man die Teilstrecke bis zur im Bau befindlichen
Saalebrücke bei Grizehne fertig. Um die Lokomotiven mit Wasser versorgen zu
können, waren nahe der Bahnstation eine Dampfmaschine und ein windgetriebener
Motor aufgestellt worden, die das Wasser aus der nahe gelegenen Saale
heranpumpten.
Die Bahnstation mit Pferdedroschkenverbindung nach Calbe hieß „An der Saale",
später „Grizehne“. (Hier traf auch 1866 der „48-er“-Revolutionär Dr. Wilhelm
Loewe ein, als er nach einer Amnestie für politisch Verurteilte aus der
Emigration zurückkehrte.) Die Saalebrücke konnte schließlich 1840 befahren
werden.
Als das letzte Teilstück Halle-Leipzig fertiggestellt war, wurde am 18. August
1840 die Gesamtstrecke von Magdeburg nach Leipzig eröffnet werden. (Noch 1845
sahen die Stadtväter die Eisenbahn als nutzlos für Calbe an, wie aus einem der
oben erwähnten Turmknopfdokumente hervorgeht – s. auch „Handschriften…“ Teil 3.)
Die erste Eisenbahnbrücke über die Saale bei Grizehne war nur eingleisig und aus
Holz gebaut. Die 30 Pfeiler hatte man jedoch schon für eine Breite, die zwei
Gleisen entsprach, gesetzt. 1853 wurde ein Gerüst aus Gusseisen-Stäben für das
zweite Gleis aufgelegt. 1867 ersetzte man dann gänzlich die hölzerne durch eine
gusseiserne Eisenbahnbrücke. Wegen des damals noch häufig auftretenden
winterlichen Eisganges waren die Pfeiler an der (westlichen)
Strömungs-Prallseite zugespitzt.
1850 fuhren private mit Pferden bespannte Omnibusse zum Bahnhof, die bald
sechsmal täglich dorthin und zurück pendelten. Im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts übernahmen das immer mehr die Automobile.
Zu Beginn der 1880-er Jahre kam die Bahnlinie an den preußischen Staat. 1882
entstand die Verbindungskurve zur Eisenbahnstrecke nach Calbe(Saale)-West, die
ebenfalls zur preußischen Staatsbahn gehörte. Diese Eisenbahnverbindung wurde
zuerst nur für den Güterverkehr genutzt. Erst als die Bernburger Bahn (s.
„Calbenser Blatt“ 3/08) als preußische Staatsbahn den Personenverkehr aufnahm,
begann auch auf dieser Route der Verkehr nach Fahrplan.
Zuerst bestand der Bahnhof „An der Saale“ („Grizehne“) aus einem schlichten
Fachwerk-Gebäude (s. Abb.) und einer nahe gelegenen Gastwirtschaft. 1894 wurde
dann ein Bahnhofsgebäude im Gründerzeit-Backsteinstil, so wie es heute noch
steht, errichtet. 1930 erhielt der Bahnhof den Namen „Calbe(Saale)-Ost“.
1934/35 wurde die Strecke Magdeburg-Halle-Leipzig elektrifiziert. Nach der
Demontage der Fahrleitung 1945 erneuerte man sie 1954/55 wieder. In den Jahren
2000 bis 2002 konnten die gesamte Strecke und die Fahrleitung modernisiert und
danach für Zug-Geschwindigkeiten bis 160 km/h freigegeben werden.
Calbe und die Eisenbahnen (Teil 3/1: Die „Kanonenbahn“ Berlin-Metz über Calbe-West )
(Unter Verwendung manuskriptschriftlicher Forschungsergebnisse von Manfred Zander)
Erschienen im Oktober 2008
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Als ein entschiedener Befürworter militärstrategischer
Eisenbahnen galt schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der
Generalstabsoffizier und spätere preußisch-deutsche Armeechef Helmuth Graf von
Moltke. Solche Bahnlinien standen jedoch oft im Widerspruch zu den Interessen
der sich gerade herausbildenden modernen kapitalistischen Wirtschaft. Als sich
dann im Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 sowie im Deutsch-Französischen
Krieg 1870/71 der Nutzen einiger schon vorhandener, aber noch nicht
ausreichender Bahnstrecken erwiesen hatte und nach dem gewonnenen Krieg gegen
Frankreich die Goldfranc-Ströme der Reparationen in die deutsche Staatskasse
flossen, entschied sich die Reichsregierung für den Bau einer möglichst direkten
südwestlich-nordöstlichen Linie zwischen der Reichshauptstadt Berlin und der
gerade im Krieg dazu gewonnenen lothringischen Stadt und Festung Metz. Nicht nur
der schnelle Transport der begehrten Kohlen und Eisenerze aus Lothringen ins
Reichsinnere machte eine solche Bahn erstrebenswert, sondern gerade auch für den
Fall eines erwarteten neuen Krieges mit dem „Erbfeind“ Frankreich wollte sich
das Deutsche Kaiserreich mit einer hohen Aufmarschgeschwindigkeit wappnen. Die
reichlich vorhandenen Staatsgelder machten es nun möglich, die für die
Streckenführung relevanten, schon gebauten privaten Eisenbahnen aufzukaufen und
zu verstaatlichen. Es gab bereits die Eisenbahnen Halle-Nordhausen-Kassel
(1863-73), die Main-Weser-Bahn Kassel-Frankfurt/M., die Lahntalbahn
Gießen-Koblenz (1857-63) und den inzwischen einverleibten Teil der Französischen
Ostbahn (1845-53) von Diedenhofen (Thionville) nach Metz. Diese für die Trasse
teilweise genutzten Bahnen mussten ergänzt werden durch Abkürzungen und
Großraum-Umgehungen wie die Leinefelde-Treysa-Strecke (1870-76) und die
Gießen-Umgehung Lollar-Wetzlar (1875-78). Hinzu kamen die Moselbahn
Koblenz-Trier (1875-79) und die an sie anknüpfende Strecke Ehrang-Diedenhofen
(1876-78).
Die Realisierung eines wichtigen Abschnittes stand aber noch auf der
Tagesordnung: die Strecke Berlin-Blankenheim mit Anschluss an die Strecke bis
Leinefelde auf der Halle-Kasseler Bahn. Die tonangebenden Militärs führten
1877-79 die Berlin-Blankenheimer Bahn, ohne sich um privatkapitalistische
Wirtschaftsinteressen zu kümmern, mit 188,1 Strecken-Kilometern über Belzig,
Wiesenburg, Calbe und Güsten. Zunächst hatten sich bürgerliche Kreise an diesem
Projekt sehr interessiert gezeigt, und nicht nur in Calbe waren
Eisenbahn-Komitees entstanden. Aber für eine kommerzielle Trassenführung (z.B.
über Zerbst-Calbe-Bernburg) gab es von militärischer Seite keine Zustimmung.
Mit dem ihnen eigenen trockenen Humor hatten die Berliner die
militärstrategische Eisenbahn von der Reichshauptstadt bis zur lothringischen
Festung Metz „Kanonenbahn“ getauft, und in ganz Deutschland, auch in Calbe,
übernahm man diesen Ausdruck. Eigentlich hätte sie ja für die Strecke
Calbe-Berlin „Bollen- und Gurkenbahn“ heißen müssen, denn die direkte Verbindung
Calbes mit der Metropole machte die Stadt zu einem bedeutenden Exporteur von
landwirtschaftlichen Artikeln, deren Bedeutung für die Gesundheit der
Großstadtbewohner immer mehr erkannt worden war, und führte zu einem erneuten
wirtschaftlichen Aufschwung Calbes, diesmal mit einem zweiten „Standbein“, der
Gemüse-Produktion und der entsprechenden Verarbeitungsindustrie. Die
Tuchindustrie- und Kreisstadt wurde so in der 43-jährigen Friedensperiode nach
1871 erst richtig als „Bollen-Calbe“ bekannt, obwohl sich das Städtchen schon
mehrere Jahrhunderte um den Feldgemüsebau verdient gemacht hatte. 1910 war die
Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten aus Calbe so groß geworden, dass
der Güterbahnhof West erweitert werden musste. Die Bahnhofstraße wurde mit ihren
Gründerzeitvillen der neuen Gemüseverarbeitungs-Fabrikanten zu einer der
prächtigsten Straßen der Stadt. (Fortsetzung 3/2)
Inhalt der Turmknöpfe der Stadtkirche "St. Stephani"
Teil 1 - 3: Handschriften
Erschienen im März, April, Juni 2008
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2007 konnten die Calbenserinnen und Calbenser Zeugen eines Ereignisses werden, das nur in Abständen von rund 170 Jahren zu bestaunen ist: die Öffnung der so genannten Zeitkapseln in den Turmknöpfen der Stadtkirche „St. Stephani“ zu Calbe. Aus dem nördlichen Turmknopf kamen am 23. August Dokumente zutage, die dort 1845 in einem gut verschlossenen Lebensmittelglas hinterlegt worden waren. Die beiden Hauptschriftstücke stellen kurze Zustandsbeschreibungen der Stadt und der allgemeinen Lage aus den Jahren 1845 und 1678 dar. Die Stadtväter hatten nämlich 1845 eine Abschrift eines (schon beschädigten) Dokumentes aus dem 17. Jahrhundert beigelegt, das sich ihnen beim damaligen Öffnen der Kapseln darbot (vgl. CB 1/2008).
So können wir Blicke in gleich zwei Epochen der Stadtgeschichte tun: in die Zeit kurz vor der brandenburgisch-preußischen Machtübernahme sowie in die Periode des Biedermeier und Vormärz kurz vor der 1848-er Revolution.
Aus der Abschrift des Schriftstückes von 1678 erfahren wir, dass in diesem Jahr das Dach der Kirche - 183 Jahre nach ihrer Fertigstellung als spätgotische Hallenkirche - völlig neu eingedeckt werden musste und die Bürger dafür die zersprungene „Große Glocke“ verkauften, um das Geld aufbringen zu können. Übrigens wurden bei dieser Generalsanierung des Daches auch die 12 Zwerchdächer abgerissen, weil sie zu hohe Erhaltungskosten verursachten. So trägt die Kirche bis heute nur ein schlichtes Satteldach. Weiterhin wurde mitgeteilt, dass man noch unter der Herrschaft des Administrators August von Sachsen lebte, aber nach dessen Ableben das Magdeburger Land laut Bestimmungen des Westfälischen Friedens an Brandenburg(-Preußen) kommen sollte. Das geschah übrigens zwei Jahre später. Ganz akkurat wurden nun namentlich der Rat, die Geistlichkeit, das Kollegium der Schule, die Vorsteher der Kirche und des Kirchenvermögens sowie der sozialen Stiftungen der Stadt vorgestellt. Für uns sind zwei Namen von Bedeutung: Der Rektor der Schule Johann Heinrich Hävecker, der 3 Jahre später zweiter und 1693 erster Pastor der Stadtkirche, außerdem Kircheninspektor, Mitbegründer des Pietismus, Kirchendichter und Regionalchronist wurde, sowie der damalige Rechtsbeistand (Syndikus) des Rates, Johann Friedrich Reichenbach, späterer Bürgermeister und nicht nur Erbpächter des Gutes Ritterstraße 1, sondern auch des „Lemmer-Hofes“ (heute Sparkasse und Einfahrt in der heutigen Wilhelm-Loewe-Straße). Aufschlussreich für uns ist, dass man in dem Schriftstück großen Wert auf die Rechtskompetenzen der Bürger legte, wie die Ausübung der niederen Gerichtsbarkeit, das uneingeschränkte Braurecht im Umkreis von mehreren Kilometern und das Vorschlags-Recht beim Einsatz des ersten Pastors bzw. das vollständige Einsatzrecht beim zweiten und beim Vorstadt-Pastor. Diese dezidierte Hervorhebung der juristischen Zuständigkeiten der Stadt entsprang aus einem jahrhundertelangen Streit wegen der Bevormundungsversuche durch die landesherrliche Schlossvogtei.
Besonders betont wurde außerdem das Bekenntnis des Magdeburger Landes zur reinen (orthodoxen) lutherischen Lehre, denn es gab im evangelischen Lager schon seit dem 16. Jahrhundert die Aufspaltung in die Gnesio- bzw. orthodoxen Lutheraner mit der Ablehnung menschlicher Werke als Verdienste vor Gott, die Calvinisten, die im Gegensatz dazu Fleiß und wirtschaftlichen Erfolg als Beweis der göttlichen Auserwähltheit ansahen, und die dazwischen argumentierenden Philippisten oder Krypto-Calvinisten bzw. Reformierten.
Am Schluss des Dokumentes teilten die Stadtväter mit, dass drei Jahrzehnte nach dem Dreißigjährigen Krieg die Menschen schon wieder in Angst und Sorge über den Krieg des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. gegen die Niederlande und halb Europa lebten, deren Auswirkungen und Bedrohungen die Menschen in Calbe spürten.
Was können wir nun aus der Botschaft von 1845 erfahren?
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Friedrich August Scheele |
Zuerst wurden uns die Umstände der Turmknopf-Öffnung und deren Bestückung im Mai
und Juni 1845 erklärt (vgl. CB 1 und 2/2008). Dann gingen die Stadtväter auf die
Verwaltungsreformen ein, bei denen Calbe 1815 Kreisstadt in der neuen
preußischen Provinz Sachsen geworden war und 1831 eine
Stadtverordneten-Versammlung erhalten hatte. Nachfolgend wurden alle Mitglieder
des 4-köpfigen Magistrats und der 18-köpfigen Stadtverordneten-Versammlung
namentlich aufgeführt.
Drei Pastoren mit Superintendent und Oberpastor Friedrich August Scheele an der
Spitze sorgten auch 1845 für die geistliche Betreuung der Stadtbürger und
Vorstädter.
Bemerkenswert war der Fortschritt im Schulwesen der Stadt. 10 Lehrer
unterrichteten in einer Knaben-Bürgerschule mit 5 Klassen und einer
Töchter-Bürgerschule mit 5 Klassen sowie 2 Lehrer in der Volksschule für ärmere
Stadtbewohner mit einer Mädchen- und einer Jungen-Klasse. (Was nicht in dem
Dokument erwähnt wurde, ist die Tatsache, dass auch in den beiden Vorstädten je
eine Schule existierte.)
Wegen Überfüllung des Lorenz-Friedhofs musste die Stadt mit Hilfe einer privaten
Schenkung ein neues Gelände kaufen und ausbauen, das östliche Drittel des
jetzigen Stadt-Friedhofs. Die Vorstädter durften dort auch ihre Verstorbenen
beerdigen.
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Saalemühle um 1830 |
Ein anderes Problem beschäftigte die
Bürger Calbes von 1845 ebenfalls sehr stark. 1828 war die größte Glocke
zersprungen, 12 Jahre lang hatten sie gesammelt und gespart, und 1840 konnten
der Neuguss und die feierliche Einweihung erfolgen. Aber schon 1843 zersprang
die „Große“ erneut. Nun wartete man wiederum, bis genügend Geld zusammen war.
Wir wissen heute, dass der Guss 1852 erfolgte und die Glocke dann bis zu ihrer
Einschmelzung im Ersten Weltkrieg ihren Dienst zur vollen Zufriedenheit versah.
Die Eisenbahn Magdeburg-Halle-Leipzig, an der Calbe mit dem Bahnhof Grizehne
seit 1839 lag, wurde in dem Bericht als nutzlos für die Stadt angesehen.
Als Hauptwirtschaftszweige Calbes gab man in dem vom Bürgermeister Kleist
unterzeichneten Schreiben die Landwirtschaft und Industrie an. 4 Tuchfabriken, 2
Zichorien-Manufakturen, und eine bedeutende Papierfabrik existierten hier 1845.
Zwei Zuckerfabriken waren im Schlossamt und in Gottesgnaden errichtet worden.
Die wirtschaftliche Lage der Kommune wurde als schlecht bezeichnet. Jährlich
brauchte die Kämmerei-Kasse 3000 Taler Zuschüsse, nahezu so viel wie der neue
Friedhof gekostet hatte. Dieses Manko mussten die Bürger durch höhere Steuern
ausgleichen. Die Lebensmittelpreise waren auch in Calbe 1845 stark gestiegen.
Hinzu kam hier die weitgehende Vernichtung der Ernte durch zwei große
Hochwasser. Deshalb rechnete der Magistrat mit einer weiteren Erhöhung der
Nahrungspreise, was dann auch der tatsächlichen Entwicklung entsprach und eine
der ökonomischen Ursachen der Revolution 1848 bildete.
Inhalt der Turmknöpfe der Stadtkirche "St. Stephani"
Teil 4: Kommunale Drucke
Erschienen im Juli 2008
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Einige der hinterlegten
Turmknopf-Dokumente beziehen sich auf Ereignisse, die in der Handschrift von
1845 (vgl. CB 4 und 6/2008) erwähnt wurden.
Die gedruckte Festordnung mit Liedtexten anlässlich der Friedhofseinweihung ist
für uns nur insofern von Interesse, als in ihr der hierarchische Aufbau in einer
preußischen Kleinstadt der Biedermeierzeit mit den dörflichen Vorstädten als
Anhängen deutlich wird und wir einen Einblick in die romantisch-religiöse Lyrik
der Zeit erhalten.
Ähnlich verhält es sich mit dem Festgedicht anlässlich der Einweihung der großen
Glocke 1840. In diese Richtung geht auch die Festlyrik von 1844 zu Ehren des
50-jährigen Dienstjubiläums des Arztes Dr. Herbst, der seit 1827 Kreisarzt war.
Allerdings muss man dabei beachten, dass in jener Zeit bürgerliche
Festlichkeiten und Vereinsgründungen sehr verbreitet waren, boten sie doch
Möglichkeiten der geselligen Kommunikation, zumal oppositionelle politische
Betätigung zwischen 1815 und 1848 streng verfolgt wurde. So muss auch das Fest
des 300. Jubiläums der Reformation in Calbe von 1842 gewertet werden, dessen
gedruckt vorliegende Predigt des Superintendenten Friedrich Scheele im Turmknopf
hinterlegt wurde. Beachtenswert an dieser Predigt ist, dass Scheele darin auf
die Weiterentwicklung der lutherischen Lehre und die Annäherung an die einst
verschmähten calvinistischen Bekenntnisse verweist, indem er die Bedeutung der
aktiven Werke der Gläubigen besonders hervorhebt. Die Aufforderung zu sozialem
Engagement und zur Hilfe für die Ärmsten und Verlassenen ist eine zentrale
Forderung seiner Predigt, so wie es übrigens seine Tochter Marie und ihr Mann
Philipp Nathusius praktizierten.
Das Vereinsstatut der Uniformierten Schützen, die sich 1845 gegründet hatten und
die im Bürgergarten tagten, ist deshalb für uns so aufschlussreich, weil in ihm
unter anderem eine Liste der Mitglieder mit deren Vereinsfunktionen, aber auch
mit deren bürgerlichen Berufen enthalten ist. Ein Überwiegen des städtischen
Kleinbürgertums in diesem Verein weist auf dessen möglichen demokratischen
Charakter hin.
Einen Überblick über die gesamte Bürgerschaft Calbes und deren Berufe gibt uns
die Liste zur Ergänzungs-Wahl der Stadtverordneten von 1845. Frauen waren nicht
wahlberechtigt. Deshalb tauchen in den Listen nur Männer auf. Auch die
Vorstädter hatten zur Stadtwahl keinen Zugang, weil sie bis 1899 als
Dorfbewohner galten.
Am interessantesten im kommunalen Bereich ist für uns die Straßen-Ordnung, eine
Broschüre mit einer Auflistung aller Verordnungen zum Verhalten in der
städtischen Öffentlichkeit und zum gemeinschaftlichen Zusammenleben. Es ging
darin um Straßenreinigung, Abwasser- und Abfallbeseitigung, die Freihaltung der
Straßen für den Verkehr, die Instandhaltung der an Straßen stehenden Gebäude,
die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und der Ruhe und Ordnung. Aus dem
Dokument wird nicht nur die mangelhafte soziale Hygiene ersichtlich, wir
erkennen auch, wie schmal damals die calbischen Straßen im allgemeinen waren und
mit welchen Verkehrsmitteln man sich fortbewegte.
Inhalt der Turmknöpfe der Stadtkirche "St. Stephani"
Teil 5: Staatliche Drucke
Erschienen im Doppelheft August-September 2008
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Auch staatliche Dokumente waren in den
Turmknopf eingefügt worden, so unter anderem ein langatmiges Amts-Blatt Nr. 23
der Königlichen Regierung zu Magdeburg, in dem es um die Binnenschifffahrt und
die Zölle auf der Elbe ging. Mit Sicherheit haben uns die Stadtväter dieses
weitschweifige Papier in Beamtendeutsch hinterlassen, um uns nicht nur den
königlichen Amtsschimmel, sondern auch die Zerrissenheit Deutschlands vor Augen
zu führen. Ein Elbschiffer musste bei einer Fahrt von Melnik in Böhmen bis nach
Hamburg 9 Länder, davon 8 deutsche, passieren, deren Zollstellen insgesamt für
jede Bruttoregistertonne 24 Taler abkassierten. Ein innerdeutscher „Fernhandel“,
bei dem man über 1000 Taler zuzahlte, lohnte sich also nicht. Deshalb waren sich
die Liberalen und Demokraten im Vormärz in ihrer Hauptforderung einig: ein
wirtschaftlich und politisch einiges Deutschland.
Das beigefügte Testament des verstorbenen preußischen Königs Friedrich Wilhelm
III., das Friedrich Wilhelm IV. bei seiner Thronbesteigung mit einer eigenen
Stellungnahme veröffentlichen ließ, machte die Hoffnungslosigkeit des deutschen
Bürgertums deutlich. Auf die Hauptforderungen der Zeit, Verfassung und Nation,
gingen beide nicht ein. So stand nur das große Plus der Regierungszeit Friedrich
Wilhelms III. im Mittelpunkt des Testaments und der Würdigung durch seinen Sohn:
die lange Friedensperiode seit 1815, die allerdings auch mit einer Unterdrückung
aller freiheitlichen Bestrebungen einherging und als Friedhofsfrieden bezeichnet
wurde.
Ein Extrablatt des Amtsblattes der Königlichen Regierung in Magdeburg wies auf
die durch das März- und April-Hochwasser 1845 entstandene Notlage der
Bevölkerung, die Verluste von Häusern, Vieh, Gerät und Nahrungsmitteln, hin. Die
spontan entstandenen Hilfsvereine wurden von einem Zentralverein koordiniert, in
dessen Namen die Provinzial-Regierung in Magdeburg um Spenden zur Linderung der
Not bat.
In einem anderen Amtsblatt kann man etwas über den Vorgang der Ablösung der
bäuerlichen Feudallasten erfahren. Die gebundenen Landwirte konnten sich,
ausgelöst durch die Stein-Hardenberg-Reformen, von ihren Dienst- und
Abgabenverpflichtungen freikaufen, oft durch Landabtretung. In den Amtsblättern
enthaltene Steckbriefe für gesuchte Kleinkriminelle geben uns Aufschluss über
deren Kleidung, aber teilweise auch über deren Lebensumstände. Weiterhin
enthielt die Zeitkapsel einen Pass, der ein Jahr gültig war und dem calbischen
liberalen Apotheker Ewald Zimmermann, einem Gefährten Wilhelm Loewes und
Alexander Nicolais, gehört hatte. Ein Lotterie-Los, das in Calbe vom königlichen
Lotterie-Einnehmer Schwenke ausgestellt worden war, sollte uns wahrscheinlich
auf eine von den Liberalen heftig angegriffene unsittliche Geldquelle der
feudalen Staaten hinweisen, die besonders die arme Bevölkerung um ihre letzten
Groschen brachte.
Inhalt der Turmknöpfe der Stadtkirche "St. Stephani"
Teil 6 (letzter Teil): Zeitungen
Erschienen im Oktober 2008
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Die Zeitungen, von denen fünf verschiedene im
Turmknopf enthalten waren, stellten vor der Revolution 1848 die Hauptform der
bürgerlichen Massenkommunikation dar. In unserem Falle waren das die renommierte
liberale „Vossische Zeitung“ aus Berlin, das Ascherslebener „Gemeinschaftliche
Wochenblatt“, der Schönebecker „Lokomotive Merkur“, die „Magdeburgische
Zeitung“, übrigens die älteste deutsche Zeitung, und das „Calbesche Kreisblatt“.
Da Zeitungen um 1845 noch relativ teuer waren, wurden sie von Geschäftsleuten
abonniert und dann der Allgemeinheit in bestimmten Räumen zur Verfügung
gestellt. So entstanden u.a. auch in Calbe Lese- und Diskutierzirkel, die man
allerdings staatlicherseits argwöhnisch beobachtete.
Während die wenigen Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts noch Flugblättern
ähnlich sahen, wurden sie im 19. Jahrhundert größer und umfangreicher und
bekamen Leitartikel, Feuilletons, Nachrichten-, Wirtschafts-, Unterhaltungs- und
Annoncenteile.
1845 war der Höhepunkt einer demokratischen Bewegung, die sich unter religiösem
Deckmantel in Form der protestantischen „Lichtfreunde“ und der
„Deutschkatholiken“ darstellte. Ein Pfarrer aus Pömmelte, Leberecht Uhlich,
hatte einen aufgeklärten, zeitgemäßen Protestantismus gefordert. Der große
Zustrom zu seiner Bewegung erklärt sich aus dem Streben breiter
Bevölkerungsschichten nach Veränderung der politischen und sozialen Lage.
Ähnlich verhielt es sich mit den Deutschkatholiken. Die Zeitungen griffen das
publikumswirksame Thema begierig auf, und so gab es keines der beigefügten
Blätter, das sich nicht damit beschäftigte. Ein anderes Thema der Zeit, über das
die Zeitungen ausführlich berichteten, war die Ausweisung der südwestdeutschen
Oppositionsführer Itzstein und Hecker aus Preußen. Der monarchische preußische
Staat erreichte jedoch in einer Zeit des aufblühenden Pressewesens mit solchen
Maßnahmen das Gegenteil. Alle Welt sprach und diskutierte darüber. Lichtfreunde,
Deutschkatholiken und die Ausweisung der Oppositionellen waren auch Themen der „Magdeburgischen
Zeitung“, die darüber hinaus Hunger und Armut der unteren Bevölkerungsschichten
und die daraus resultierende Auswanderungswelle thematisierte.
Am meisten zurückhaltend zeigte sich das „Calbesche Kreisblatt“, das aber
immerhin auch eine Anekdote über Freisinnigkeit und Redefreiheit abzudrucken
wagte. Dieses Blatt gibt uns darüber hinaus einen ansprechenden Einblick in das
biedermeierliche Leben in Calbe.
Das bedeutendste der enthaltenen Pressedokumente war das Exemplar der vom
liberalen Apotheker Zimmermann abonnierten „Berlinischen Zeitung“, der so
genannten „Vossischen“. Ihre Themen erschöpften sich nicht nur in den schon
genannten Gegenständen, sondern konzentrierten sich außerdem u.a. auf den Kampf
für die Abschaffung der Sklaverei in Afrika und auf die Not der Weber in
Potsdam.
Im Annoncenteil der „Vossischen“ ging es nicht nur um die Anfertigung von
Zahnprothesen und um Fahrpläne neuer Eisenbahnen, sondern ebenso um Werbung für
politische und naturwissenschaftliche Schriften, unter denen auch Bücher zur
sexuellen Aufklärung waren.
Damit endet die kleine Übersicht über die Dokumente, die im nördlichen Turmknopf
der St.-Stephani-Kirche enthalten waren und die am 23. August 2007 zu Tage
kamen.
DVDs zur Turmknopf-Ausstellung (Februar/März 2008) sind in der Heimatstube
Calbe/S. erhältlich. Dort können auch die Kopien der Dokumente eingesehen
werden.
Internet: http://de.geocities.com/geschichtecalbes/ oder http://calberundgang.kilu.de/Turmknopfausstellung.htm
Calbe und die Eisenbahnen (Teil 3/2 Schluss: Die „Kanonenbahn“ Berlin-Metz über Calbe-West )
(Unter Verwendung manuskriptschriftlicher Forschungsergebnisse von Manfred Zander)
Erschienen im Dezember 2008
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In der Zeit der Planung der Berlin-Blankenheimer Strecke gab es seitens der hiesigen Männer der Wirtschaft die Vorstellung, den schon vorhandenen Bahnhof in Grizehne (Calbe-Ost, s. CB 5/08) auch für die neue Bahnlinie zu benutzen. Das stieß jedoch bei den staatlich-militärischen Planern auf Ablehnung, weil die Magdeburg-Halle-Leipzig-Eisenbahn zu der Zeit noch in privaten Aktionärshänden war. So musste man sich für einen neuen Bahnhof am Westrand Calbes entscheiden. Im Frühjahr 1878 wurde sowohl der Bau eines Bahnhofsgebäudes am „Weg von Calbe nach Glöthe“ (- im Volksmund der „Galgenweg“ genannt, weil an diesem Weg im Gebiet der heutigen Kleingärten im 18. Jahrhundert das Galgengerüst gestanden hatte -) als auch per Kreistagsbeschluss der Ausbau des vorhandenen einfachen Weges zur befestigten Landstraße („Kreis-Chaussee“) genehmigt. Das neue Gebäude im Neorenaissance-Backsteinstil war im März 1879 fertig geworden, die 620 Meter lange „Kreis-Chaussee“, die bald „Bahnhofstraße“ hieß, wurde 1881 für den Verkehr freigegeben. Am 16. März 1879 fand mit höheren Bahnbeamten eine letzte Probefahrt auf der Strecke Berlin-Nordhausen statt. Danach begann der planmäßige Verkehr. Der Bahnhof erhielt die Bezeichnung „Calbe-Stadt“, seit 1885 trug er den Namen „Calbe an der Saale“ und seit 1913 heißt er „Calbe(Saale)West“. Bald kamen hier Expresszüge mit kaiserlichen Pferden und Wagen in Richtung Rheinland sowie Militärzüge mit Material und Mannschaften, die zu Übungen an der deutschen Westgrenze ausrückten, vorbei. Auf den häufigen Fahrten des Kaisers ins Rhein-Mosel-Gebiet hielten seine Sonderzüge planmäßig in Calbe, und viele Schaulustige bejubelten den Monarchen. Die Kanonenbahn wurde auch für den zivilen Fernverkehr genutzt. Auf der Teilstrecke Berlin-Nordhausen fuhren 1880 täglich fünf Züge in beiden Richtungen. Der „Kurierzug“ (ohne Halt in Calbe) schaffte es von Berlin bis Trier in 15 Stunden. Seit 1895 gab es eine D-Zug-Verbindung von Berlin nach Frankfurt/M. und in Gegenrichtung (mit Halt in Calbe). Diese Verbindung wurde mit Beginn des Ersten Weltkrieges eingestellt. Erst in der DDR fuhren auf dieser Strecke zeitweilig wieder D-Züge als „Interzonenzüge”, allerdings nun aus politischen Gründen abermals ohne Halt in Calbe. Vorwiegend nutzte man diese Strecke in der DDR für den Güterverkehr.
Nach zwei Weltkriegen mit dem Hervortreten neuer schnellerer Waffensysteme wie der Panzer- und Luftwaffe sowie mit der Beweglichkeit der Bodentruppen durch Lkw-Beförderung hatte die starre militärstrategische Kanonenbahn ausgedient. Nun wurde ihre Konzeption der Wirtschaftsferne zur Krux. Nur noch wirtschaftlich tragbare Teilstrecken blieben bestehen. Zuerst kam nach 1945 wegen der deutschen Trennung das Aus für einige hessische Strecken der Kanonenbahn.
Hatte in der kleinen DDR noch ein Bedarf für die Berlin-Blankenheim-Bahn auf Grund von einigen neuen Industriestandort-Gründungen, u. a. auch in Calbe, bestanden, so fiel dieser mit dem Ende der DDR weitgehend weg.
1998 wurde der fahrplanmäßige Verkehr auf der Strecke Güterglück-Calbe-Güsten eingestellt und die Anschlüsse des Güterbahnhofs „abgeklemmt“. 2004 legte man die Streckenabschnitte von Wiesenburg bis Barby und von Calbe bis Güsten endgültig still und entfernt seit 2005 an den Straßenübergängen die Gleise.
Vor 90 Jahren in Calbe: Ende des Ersten Weltkrieges und November-Revolution (Teil 1)
Erschienen im November 2008
Am 11. November 1918 strömten die Calbenserinnen und Calbenser zum Marktplatz zur ersten demokratischen Massen-Kundgebung in der Geschichte ihrer Stadt. Auf dem Rathaus wehte die rote Fahne, und überall herrschte freudige und gespannte Erregung. Die revolutionären Ereignisse, die von Berlin und Magdeburg bis in die kleine Kreisstadt gedrungen waren, hatten die Einwohner völlig überrascht und verwirrt. Hinter ihnen lag ein schmerzlicher Erkenntnisprozess.
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Als der Erste Weltkrieg im Spätsommer 1914 ausbrach, waren die Menschen in Calbe, wie viele andere Deutsche, in einen Taumel der Begeisterung gefallen. Ganze Abschlussklassen „höherer Lehranstalten“ meldeten sich mehrheitlich bzw. geschlossen als Freiwillige an die Front, wie in Calbe die Abschlussklässler der Realschule oder die Absolventen des Barbyer Lehrerseminars. Dabei spielte neben echter Begeisterung wohl auch der Gruppendruck eine nicht unerhebliche Rolle. Einer der blutjungen Enthusiasten aus Calbe erlebte Weihnachten 1914 nicht mehr, er fiel am Tag vor dem Heiligen Abend. In der Nacht vom 7. zum 8. August hatten die Calbenserinnen und Calbenser auf ihrem Marktplatz eine große Zahl von Wehrpflichtigen in einer patriotischen Kundgebung verabschiedet. Der Landrat und der Bürgermeister hielten zündende Ansprachen, „und brausend erscholl das Hoch auf unseren Kaiser und das Vaterland. - Gewiß, auch hier kam bei den zurückgebliebenen Angehörigen die Wehmut zum Ausdruck, aber hoffnungsfroh und siegesmutig zogen die Krieger hinaus. Möge Gott sie geleiten und ihnen eine gesunde Heimkehr bereiten.“ So schrieb die „Stadt- und Landzeitung“ (Calbe) am 8.8.1914. An ihre Eisenbahnwaggons hatten auch Soldaten aus Calbe in großen Buchstaben geschrieben: „Hurra! Jetzt geht's nach Frankreich!" oder „In 14 Tagen Gartenfest in Paris!“ usw. usw. Aber aus dem Festtanz mit flotten Pariserinnen wurde nichts. Nach dem zügigen Vorstoß bis zur Marne in Belgien, bei dem die deutschen Soldaten auch den massiven Widerstand der Zivilbevölkerung zu spüren bekamen, und der erfolgreichen Schlacht bei Tannenberg in den Masuren ging der Bewegungskrieg in einen zermürbenden Stellungskrieg über. Die mit der Technik des 20. Jahrhunderts, den Flugzeugen, Luftschiffen, Tanks, Riesenkanonen, Maschinengewehren, Chemiewaffen, Flammenwerfern u. a., geführten Angriffe hatten seit Ende 1914 auf beiden Seiten das Ziel, den Gegner bis über die Grenzen seiner wirtschaftlichen und menschlichen Kräfte zu treiben, ihn ausbluten zu lassen. Die Trommelfeuer-Höllen der „Blutmühlen“ von Verdun, Ypern und Amiens – um nur einige zu nennen - waren Ausdruck dafür. Sie sind im Gedächtnis der Völker bis heute verhaftet. Auch die Soldaten aus Calbe mussten sich wochen- und monatelang in die fremde Erde eingraben. Ganze „Städte“ entstanden so im Untergrund. Nur die immer wieder von feindlichen Geschossen getöteten „Bewohner“ dieser „Städte“, so bemerkte ein Calbenser in einem Feldpostbrief sarkastisch, mussten im Schutz der Dunkelheit nach oben auf den „großen Friedhof“ des Niemandslandes transportiert werden (SLZ vom 17.11.1914), an Beerdigungen war nicht mehr zu denken. An allen Fronten bis zur Yser zeigte sich das „Schlachtfeld als ein weiter Friedhof“. Nur noch ca. jeder Zehnte der gefallenen Soldaten, die aus Calbe stammten, konnte auf dem Friedhof unserer Stadt beerdigt werden, und das betraf meist Schwerverwundete, die in Lazaretten hinter der Front ihren Verletzungen erlegen waren. Die vielen Toten auf den Schlachtfeldern zu bergen, überstieg die menschlichen Kräfte und scheiterte an den technischen Mitteln.
Vor 90 Jahren in Calbe: Ende des Ersten Weltkrieges und November-Revolution (Teil 2)
Erschienen im Dezember 2008
Schon zu Beginn des Krieges stiegen die Preise für Nahrungsmittel und Dinge des täglichen Bedarfs, weil das Beste davon vorrangig der kämpfenden Truppe zugeführt wurde und eine Blockade durch die Entente den deutschen Handel fast zum Erliegen brachte. Ersatzstoffe, von denen immer neue „erfunden“ wurden, kamen zum Einsatz: Sägespäne statt Seife, Papier statt Tuch, Kohlrüben statt Fleisch, Obstbaumblätter statt Tabak usw. Diebesbanden und Einzeltäter, besonders Frauen und Kinder, die ums Überleben kämpften, waren ständig „auf Tour“. Ein Calbenser schoss seine 14-jährige Dienstmagd zum Krüppel, weil er sie im Dunkeln auf seinem Hof in der Magdeburger Straße für einen Dieb gehalten hatte. Um die Moral an der „Heimatfront“ zu heben, wurden staatlich verordnete „Patriotische Abende“ und Theateraufführungen mit Schauspielern aus Berlin und Magdeburg in den großen Gaststätten Calbes, besonders im Saal der „Reichskapelle“, veranstaltet. Nach drei Jahren des qualvollen „Ausblutens“ und Leidens unterblieb auch das.
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Hunger und Elend in einem deutschen Dorf während des Ersten Weltkrieges (aus: „rbb Preußen-Chronik“) |
Wie prekär die Lebenslage in Calbe war, zeigt die Tatsache, dass Schulkinder sich unter den letzten noch betriebenen Straßenlaternen einfanden, um die aufgegebenen Schulaufgaben zu erledigen (SLZ vom 22.1.1915). - Immerhin machte man damals noch die Hausaufgaben! - Zu Hause gab es kaum Talglichter oder gar Petroleum, sie waren zu teuer und zu rar. Nach den immer kürzer werdenden Unterrichtszeiten mussten viele Kinder bis zum Abend auf den Äckern und Feldern - ähnlich wie die Kriegsgefangenen aus Belgien, Frankreich und Russland - arbeiten. Wer in den Kriegsjahren zur Schule ging, hatte statt der vorgeschriebenen 8 Schuljahre realiter nur 6 absolviert, denn der Unterricht musste oft wegen der vielen zum Fronteinsatz eingezogenen Lehrer ausfallen. Kinder waren die Haupt-Leidtragenden in diesem Krieg – wie in allen Kriegen. Die Kindersterblichkeit lag auch in Calbe bedrohlich hoch - z. B. starben schon im ersten Kriegsjahr mehr Kinder, die 0 bis 10 Jahre alt waren, als Erwachsene über 50 Jahren. Die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit betraf besonders Arbeiterfamilien. Auch die Geburten gingen drastisch zurück, und das nicht nur wegen Verhütungsmaßnahmen, sondern ebenso wegen einer aus der Hungersnot resultierenden Unfruchtbarkeit der Frauen. Bei 231 (einschließlich der Gefallenen) 1915 Gestorbenen bedeutete eine Geburtenziffer von 149 (3 Tote auf 2 Neugeborene) eine demografische Katastrophe (SLZ vom 4.1.1916). 1917 kamen sogar schon 2 Tote auf ein Neugeborenes (154 - einschließlich der Gefallenen - Gestorbene bei einer Geburtenziffer von 79) (SLZ vom 3.1.1918). Im letzten Kriegsjahr trafen dann auch noch Seuchen, die ihren Nährboden in Krieg und Elend fanden, die geschwächten Menschen. Ruhr, Tuberkulose, Diphtherie und die so genannte Spanische Grippe erfassten in Calbe und Umgebung vorrangig die Jüngeren und Alten.
Hunger, Elend und sich lockernde soziale Bindungen, besonders aber der verloren gehende Vorbildcharakter der Erwachsenenwelt (einschließlich der alten Autoritäten) führten nicht nur im Kreis, sondern auch in Calbe selbst zu einem bedrohlichen Anwachsen der Jugendkriminalität. Die hiesigen Jugenddelikte hatten sich 1917 gegenüber 1914 verachtfacht (SLZ vom 10.6.1918). Abgesehen von Kinder- und Jugenddiebesbanden beunruhigten die Einwohner u.a. gefährliche Zusammenrottungen, Sabotageakte durch Jugendliche an Bahngleisen und illegaler Schusswaffengebrauch.
Die seit 1915 eingeführte Lebensmittelrationierung mit Hilfe von Kartenabschnitten und die Ausgabe der Waren zu bestimmten Terminen führten dazu, dass sich lange Warte-Schlangen vor den Läden bildeten. Besonders begehrt war das kartenfreie Freibankfleisch (nur „bedingt taugliches Fleisch“, meist aus Notschlachtungen verwundeter Tiere). Viele Calbenserinnen mussten u.a. aus Schlachtabfällen, minderwertigem „Kriegsbrot“ und wild wachsenden Pflanzen Essen „zaubern“, wofür sie in der Presse als stille Heldinnen gewürdigt wurden.
Häufige Irrtümer im Geschichtswissen über Calbe (Teil 5)
Erschienen im Dezember 2008
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13. Das kleine Türmchen in der Mitte des im 16. Jahrhundert gebauten Ganges zwischen den beiden Haupttürmen der St.-Stephani-Kirche wurde nicht 1602 errichtet, wie oft geschrieben wurde, sondern schon 1572 (vgl. K. Herrfurth: „Was Glockeninschriften verraten“, CB 9/2004). Rittergutsbesitzer Jacob Hacke hatte es gestiftet (zu den Hackes CB 6 und 7/2008). Es wurde allerdings 1602 erneuert.
14. Die immer wieder zu lesende Behauptung, der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm hätte bereits 1687 per Anordnung und Privilegium vom 23.12. sieben pfälzische Tuchmacher in Calbe angesiedelt, ist nach neueren Forschungen unhaltbar, weil sie auf dem Irrtum eines Historikers von 1887 beruht. Die Annahme, dass 1687 Glaubensflüchtlinge aus der Pfalz hier eingetroffen wären, ist auch deshalb anzuzweifeln, weil der Anlass zur Flucht, die Verwüstung der Pfalz durch Ludwig XIV., erst 1689 erfolgte. Die ersten französischen Hugenotten und Pfälzer Reformierten kamen zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach Calbe. Nach J. H. Hävecker seien die „refugierten Mannheimer“ um 1710 in mäßiger Zahl in Calbe vorhanden gewesen. Henri Tollin ermittelte aus den Quellen für das Jahr 1710 vier französische und drei pfälzische Familien in Calbe. 1732 existierten 19 französische und 45 deutsch-reformierte Familien in der Stadt. Diese ersten Aussiedler der Neuzeit in Calbe wurden in einer eigenen "Kolonie" am inzwischen zugeschütteten nördlichen Stadtgraben (der heutigen Grabenstraße, früher "Koloniestraße") angesiedelt und bestimmten fortan die Geschicke der Stadt maßgeblich mit.