Artikel zur Geschichte Calbes im
"Calbenser Blatt"
Autor: Dieter Horst Steinmetz
(Veröffentlichungen
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bei Zitaten Herkunftsnachweise nicht vergessen!)
2003
Jakob Friedrich Reimmann,
der „Polyhistoriker“ der Aufklärungszeit, und seine Beziehungen zu Calbe
Erschienen in zwei Teilen im November und Dezember 2003
Das Interesse der Neuzeit-Forschung an Jacob Friedrich Reimmann, der die Grundlagen für eine moderne Literaturgeschichtsschreibung legte und ein enger Wissenschaftsgefährte von Gottfried Wilhelm Leibniz war, nahm in den letzten Jahren erheblich zu. Dass Reimmann in einer bedeutsamen Beziehung zu Calbe, Brumby und zu den Häveckers stand, ist allgemein kaum bekannt.
Der am 22.1.1668 in Gröningen geborene Reimmann wuchs unter bedrängten familiären Verhältnissen auf. Der Vater war Schulmeister und konnte den begabten Sohn finanziell kaum unterstützen. Um wenigstens vorübergehend einen kostenlosen Schulbesuch möglich zu machen, musste Jakob Friedrich fast jährlich die Schulen bis zum Abschluss des Gymnasiums wechseln.
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Die Universität in Jena konnte er wegen Geldschwierigkeiten des Vaters nur 16 Monate besuchen. Obwohl er bis zur Erschöpfung studierte und die Universität Jena dafür bekannt war, mittellosen Begabten zu helfen, untersagte ihm seine ausgeprägte Bescheidenheit und ein mangelndes Selbstbewusstsein, um eine Unterstützung zu bitten. Deswegen machte sich Reimmann ein Leben lang Vorwürfe. Die ungenützte Chance erklärt wohl auch seine fast selbstzerstörerische Verbissenheit, mit der er sich in der folgenden Zeit ein enormes Wissen aneignete und eigene Ideen zu neuen intellektuellen Richtungen veröffentlichte.
1689 bekam er eine Hauslehrerstelle in Ahlten bei Hannover. Er nutzte die Situation und ging wöchentlich einmal die rund 20 km lange Strecke (hin und zurück) nach Hannover, um dort bei einem freundlichen Hofbuchhändler die älteren und die neuesten Büchermarkt-Erscheinungen zum Selbststudium auszuleihen. Auch ein befreundeter Pfarrer lieh ihm wertvolle Bücher aus. Aufgrund dieser Studien begann er in Ahlten bereits an seiner später fundamentalen Literaturgeschichte zu arbeiten.
Als der 22jährige Reimmann auf Drängen des kranken Vaters eine Hauslehrerstelle bei der Familie des Oberamtmanns Hahnstein in Calbe antreten musste, war er zunächst nicht sehr begeistert. Erstens waren die neuen Zöglinge alles andere als lernwillig, und zweitens fehlten ihm seine geliebten (unentgeltlichen) Bücher. Da half ein Mann, von dem man das nicht erwartet hätte, den geistigen Hunger des jungen Gelehrten zu stillen, der Ratsherr und spätere Bürgermeister Christian Friedrich Deutschbein. Dieser wohl reichste Mann Calbes war auch philologisch interessiert und besaß eine Bibliothek, aus der er dem wissenshungrigen Habenichts wertvolle Bücher, einige sogar in arabischer Sprache, auslieh. Auch in dem Diakon Magister Johann Heinrich Hävecker, dem späteren Oberpfarrer und Chronisten, hatte er einen väterlichen Freund und in dessen Familie warmherzige Aufnahme gefunden. Besonders war der 23jährige der 17jährigen Nichte Häveckers im nahe gelegenen Brumby zugetan. Deshalb zögerte Reimmann nun sogar, lukrativere Angebote in anderen Städten wahrzunehmen. Als er 1692 doch noch eine Berufung als Schulrektor in Osterwieck (Harz) fluchtartig annahm, hätte ihn sein mangelndes Selbstwertgefühl beinahe zum zweiten Mal in eine Krise gestürzt. Doch der Freund reiste ihm schleunigst in den Harz nach, weil er den Grund der Abreise kannte, aber nicht akzeptieren wollte. Bei dem verdutzten jungen Rektor brachte Hävecker das Gespräch auf das Heiraten. Der niedergeschlagene Reimmann warf ein, dass ihm bei seiner schlechten Besoldung kein vernünftiger Mensch die Tochter anvertrauen würde. Doch Hävecker erwiderte lachend: "Ei, so kleinmütig muß er nicht sein."
Die Verlobung wurde zu Reimmanns Freude sofort arrangiert, und am 14.2.1693 fand in der Kirche Brumby im Beisein der Familie Hävecker und der Familie Reimmann die Hochzeit "mit Jungfer Anna Margaretha, Herrn Magister Conradi Hävecker, Pastoris eheliche Tochter, nach 3maligem ordentlichen Aufgebot öffentlich" statt. So begann eine schicksalsreiche und glückliche Ehe, die mit 14 Kindern, von denen aber nur vier das Erwachsenenalter erreichten, gesegnet war.
1702 ernannte Friedrich I., König in Preußen, den ungemein fleißigen und begabten Gelehrten zum Inspektor im Fürstentum Halberstadt. Gottfried Wilhelm Leibniz war auf Reimmanns erste Werke aufmerksam geworden und besuchte ihn mehrmals. Damit fing eine lebenslang dauernde Freundschaft an, die mit einem "starken Briefwechsel" verbunden war. Seit 1715 brach bei Reimmann eine Lungentuberkulose aus, die ihn zunehmend entkräftete und auszehrte. Als er 1717 den Posten des Stadtsuperintendenten in Hildesheim annahm, hatte wohl die materielle Dürftigkeit ein Ende. Jakob Friedrich Reimmann konnte sich noch intensiver seinen Studien widmen. Seine von den Zeitgenossen bewunderte enorme Bildung und sein wissenschaftlicher Fleiß hatten jedoch auch ihren gesundheitlichen Preis. Der 1716 verstorbene Freund Leibniz hatte wiederholt gewarnt: "Wenn wir weniger täten, könnten wir mehr tun." 1735 kam die Krankheit wieder verstärkt zum Ausbruch, aber erst 3 Tage vor seinem Tod legte der erschöpfte Mann die Schreibfeder nieder. Er starb am 1. Februar 1743 an Auszehrung infolge einer Tuberkulose.
Seinen Ruhm als Gelehrter, welcher ihm schon zu Lebzeiten zuteil wurde, hatte sich der bescheiden auftretende Mann nicht auf dem Wege einer glänzenden universitären Laufbahn, sondern im verbissenen und opferreichen Selbststudium in seinem Studierstübchen erarbeitet.
Jakob Friedrich Reimmanns bis in die Gegenwart weiter wirkende wissenschaftliche Leistung bestand in der Begründung einer systematischen historischen Betrachtung, insbesondere der Wegbereitung für eine methodische und gezielte Literatur-, Theologie- und Philosophiegeschichtsforschung. Sein sechsbändiges Hauptwerk (neben 13 anderen bedeutenden Werken) "Versuch einer Einleitung in die Literaturgeschichte sowohl insgemein als auch in die Literaturgeschichte der Deutschen insonderheit" (1708-1713) bildete die Grundlage für einen neuen Wissenschaftszweig, die Literaturgeschichte, und für die hundert Jahre später aufkommende Germanistik. Seine Philosophie- und Sprachgeschichten wurden wegweisend, und mit seiner objektiv-systematischen „Geschichte des Atheismus“ kam er in Widerstreit mit orthodoxen Theologen.
Dieser enorm fleißige und produktive Gelehrte, dessen Leben und Werk schon zu Lebzeiten in einem Universallexikon gewürdigt wurde, war ein Pionier der deutschen Aufklärung. Und wir Calbenser können sagen, dass er nicht nur familiär und freundschaftlich mit Menschen aus unserer Stadt verbunden war, sondern hier auch eine Zeit lang gelebt, gelernt und gelehrt hat. Auf Jakob Friedrich Reimmanns Beziehungen zu Calbe wurde ich freundlicherweise von dem Bonner Genealogen Bernhard Pabst aufmerksam gemacht.
(Literatur und Sites: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1875 -1910, Bd. 27, S. 716ff.; Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (Bautz), Bd. XVIII, Sp. 1180ff.; Günther, Theodor, Jacob Friedrich Reimmann 1668-1743 - Mühsal und Frucht. Köln 1974; Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.), Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Halle/Leipzig, Bd.1 [1732], S. 239ff., http://www.familienforschung-pabst.de/Veroeffentlichungen/Vorbereitung/Bd_22.htm; http://members.fortunecity.de/steinmetz41[Seite 7] Website umgezogen, heute: http://calberundgang.kilu.de/)
Zwei alte Kultstätten am Rand der Stadt Calbe
Zur Hälfte erschienen im Mai 2003, die Juni-Fortsetzung unterblieb wegen eines Fehlers. Hier vollständig!
Das erhöhte Ufer am Ende der Brotsack-Siedlung, am Nordrand der "Grünen Lunge" deutlich sichtbar, wurde über Jahrhunderte hinweg "Mägdesprung" genannt. Erstmalig ist der Name in Calbe 1446 nachweisbar, als Erzbischof Friedrich III., Graf von Beichlingen, einige Leute mit einer Breite unter dem "Meigdesprunge vor Calbe" belehnte. Adolf Reccius (vgl. a. a. O., S. 26) hielt dort eine archaische "Stelle, wo Tanzfeste abgehalten wurden" durchaus für möglich, und Johann Heinrich Hävecker vermerkte 1720, dass an diesem Ort einstmals eine größere Anzahl steinerner Rudimente entdeckt wurde (vgl. a. a. O., S. 19). Diese nicht erhaltenen Bodenfunde könnten durchaus auf einen alten Kultplatz hinweisen. Auch der Name selbst deutet auf das Brauchtum kultischer Jungfrauentänze, womöglich auf einen Initiationsritus hin.
Mägdesprung-Sagen gibt es einige im deutschen Bereich, am bekanntesten sind die von Harzgerode und Thale. Auf Rügen trifft man im Gebiet der ehemaligen slawischen Rugard-Burg (bei Bergen) ebenfalls auf einen solchen Mägdesprung. Diese uns bekannten „Mägdesprünge“ haben ein gleiches Erklärungsschema der späteren Generationen: Noch vorhandene überdimensionierte fußähnliche Vertiefungen in großen Steinen dienten als Ausgangspunkte für Fluchtsagen; entweder retteten sich unschuldige Mädchen vor Unholden durch das Wagnis eines gewaltigen Sprunges oder aber tapfere Ritter entkamen den Verfolgern durch kühne Flussdurchquerungen. In Calbe gibt es einen solchen „Stein des Beweises“ nicht (oder nicht mehr), dafür aber die entsprechende Fluchtsage.
Ein Graf hatte eine Königstochter auf seinem Pferd entführt. Die Häscher, die schon dicht hinter ihnen waren, jagten die Fliehenden in die Gegend von Grizehne. Plötzlich scheute das Pferd der Verfolgten. Sie standen an einem Abhang. In seiner Not gelobte der Graf, ein Kloster zu gründen, wenn der Sprung gelänge. Sprung und Flucht durch die Saale gelangen, und er hielt sein Wort.
Diese Sage zum Ursprung des Klosters „Gratia Dei“ (Gottes Gnade) wurde bereits im 17. Jahrhundert von dem Historienschreiber Bake überliefert, wie Johann Georg Leuckfeld 1721 in seinen „Antiquitates Praemonstratenses“ (vgl. a. a. O., S. 8) berichtete. Leuckfeld wies auch darauf hin, dass das gleiche Sagenmotiv von Flucht, Bedrängnis, Schwur und Errettung zur Gründungserklärung für das niederländische Prämonstratenserkloster bei Herzogenbusch herhalten musste.
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Der Mägdesprung von Calbe liegt am letzten hohen Ufer der Saale. Während man ihn am Nordrand der Stadt findet, gab es am Südrand eine andere alte Kultstätte, die in den Quellen „Wunderburg“ genannt wurde.
Wie zahlreiche Urnen-, Knochen- und Werkzeugfunde belegen, war dieses Areal am geschützt liegenden hohen Ufer der Saale, wo später das Dorf Hohendorf stand, schon seit der Jungsteinzeit besiedelt. Die seit Jahrhunderten in Calbe und Umgebung unvergängliche Bezeichnung „Wunderburg“ weist stark darauf hin, dass hier auch ein vorchristliches Heiligtum existiert haben muss. Der Flurname wurde ebenfalls 1446 erstmalig erwähnt (vgl. Dietrich, S. 46).
Gustav Hertel schrieb über solche Anlagen:
"Der Name Wunderburg findet sich auch an anderen Orten in verschiedenen Gegenden. Auf den Wunderburgen befand sich ein schlangenförmiger Gang, der in den Rasen gestochen war und verschiedene Ausdehnung hatte. Der Gang stellte eine um sich selbst gerollte Schlange dar, so daß der Eingang und Ausgang dicht beieinander lagen. Solche Anlagen, wie sie jetzt noch bei Steigra bei Querfurt, Teicha bei Halle und Eberswalde in der Mark erhalten sind, hießen auch Schlangengang, Irrgarten, Labyrinth, Jerusalemsweg und lagen meist neben Kirchen, Kapellen oder Burgen." (A. a. O., S. 183f.).
Solche vorchristlichen Anlagen dienten einem Sonnen-, Fruchtbarkeits- und Frühlings-Ritual.
Als begehbares Mittel zum Zweck benutzte man die Spirale (Schlangengang) oder, etwas komplizierter, das Labyrinth. Gestaltungsformen waren: Stein-, Rasen- und Hecken-Labyrinthe (bzw. -Spiralen).
Die Spirale gehört zu den Urtypen psychischer Symbolik. Sie bedeutet eine kreisförmige Wiederholungsbewegung, jedoch - im Unterschied zum Kreis - mit Beginn und Schluss, was später auch der christlichen Auffassung vom Anfang und Ende der Welt entgegenkam. So kann es nicht verwundern, dass man diese begehbaren Labyrinthe bzw. Spiralen sogar in mittelalterlichen Kirchen findet, wie z. B. in der Kathedrale von Chartres.
Leider bestanden die Wunderburgen, auch Trojaburgen genannt, im deutschen Raum nicht aus spiralig aneinander gereihten großen Steinen wie im Norden Europas, sondern aus Schlangenbahnen, die aus dem Rasen gestochen wurden. Aus nahe liegenden Gründen mussten solche Gänge in gewissen Zeitabständen erneuert werden, sonst verschwanden sie rasch.
Die Form der Spirale ist auf die Bahn der Sonne mit ihren im Lauf des Jahres immer enger werdenden Tagkreisen zurückzuführen. In der Mitte des Schlangenganges saß bei rituellen Frühlings- und Fruchtbarkeitsfesten eine Jungfrau als Sonnensymbol, die sich schlafend stellte und von einem sich in Tanzschritten unter Musikklängen nähernden jungen Mann wach geküsst wurde. Zur Belohnung erhielt er von ihr ein Ei, das alte Fruchtbarkeitssymbol, und beide tanzten wieder zurück zum Ein-/Ausgang.
Viele Märchen und Erweckungs-Sagen, ja, auch beliebte Spiele (Gänsespiel, „Hopsekästchen“ usw.), gehen auf dieses Sujet zurück (vgl. Steinmetz, a. a. O., St. 22.) Noch im 20. Jahrhundert gab es Wunderburgfeste im deutschen und europäischen Raum. Z.B. feierte man in Kaufbeuren das "Tänzelfest" ("Schlangenziehen"), und im pommerschen Stolp (Slupsk) wurde der Tanz der Schuhmacher und Schäfer auf der "Windelbahn" mit großem Aufwand zelebriert. Auf dem Hausberg bei Eberswalde bekam der Junge, der zu Ostern am schnellsten die Wunderburg durchlief, bemalte Eier geschenkt. Der Rasen-Spiralgang von Steigra (bei Querfurt) wurde in jedem Jahr zu Ostern von Konfirmanden neu ausgestochen, bevor man diese in die kirchliche Gemeinde aufnahm.
Unsere Wunderburg in der Hohendorfer Feldmark war höchstwahrscheinlich eine Rasen-Spirale, die jedoch schnell verging, sobald sie nicht mehr erneuert wurde. Auffallend ist die unmittelbare Nähe der alten Kultstätte zu einer der wenigen in unserer Region vorhanden gewesenen Dorfkirchen, der St.-Nicolai-Kirche des wahrscheinlich im 15. Jahrhundert verlassenen Dorfes Hohendorf (vgl. ebenda, St. 20 u. 22).
Zur Zeit der Reformation wurde der vermeintliche katholische Unfug und Aberglaube verboten. Aber noch 1676 wurden Einwohner aus Calbe erwischt, als sie den dritten Ostertag auf der Wunderburg feierten. Ein Schneidermeister war der Anführer, und mit ihm waren Soldaten und viel "Weibsvolk" gewesen. Der Schneider musste wegen der "verübten Üppigkeit" 5 Taler Strafe, eine damals erhebliche Summe, zahlen (vgl. Reccius, S. 60).
Das uralte Ritual und die Erinnerung daran gingen allmählich verloren, nicht aber der Begriff "Wunderburg", auch wenn er nur noch als Flurname weiter existierte.
Vielleicht sollte man den archaischen Brauch, der tiefe Naturverbundenheit symbolisiert, bei uns wieder beleben.
Literatur:
Dietrich, Max, Unsere Heimat - Heimatkunde der Stadt Calbe, (Calbe) 1909.
Haevecker [Hävecker], Johann Heinrich, Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Acken und Wantzleben Wie auch des Closters Gottes Gnade ..., Halberstadt 1720 [Nachdruck 1897].
Hertel, Gustav, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.
Leuckfeld, Johann Georg, Antiquitates Praemonstratenses oder Historische Nachricht von zweyen ehmals berühmten Praemonstratenser-Clöstern S. Marien in Magdeburg, und Gottes=Gnade bey Calbe, Magdeburg/Leipzig 1721.
Reccius, Adolf, Chronik der Heimat (Urkundliche Nachrichten über die Geschichte der Kreisstadt Calbe und ihrer näheren Umgebung), Calbe/Saale 1936.
Steinmetz, Dieter H., Auf historischer Spurensuche - Ein Stadtrundgang in Calbe an der Saale, http://members.fortunecity.de/steinmetz41 (Stationen 12 und 22) (Website umgezogen, heute: http://calberundgang.kilu.de/)
2004
Neues aus dem Leben der Anna Margareta
von Haugwitz
Erschienen in
zwei Teilen
im
September und Oktober 2004
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Bei meiner letzten Veröffentlichung im „Calbenser Blatt" 06
und 07/2002 waren mir noch Einzelheiten aus der Kindheit und Jugend der Anna
Margareta von Haugwitz sowie die Umstände ihrer Hochzeit mit Generalmajor
Wrangel unbekannt. Aus den Studien des schwedischen Kulturhistorikers Arne
Losman konnte ich nun auf Grund gezielter Hinweise des deutschen Historikers Ivo
Asmus (Uni Greifswald) einige neue Details erfahren, die das Bild völlig
verändern und die ich den Freunden der Regionalgeschichte nicht vorenthalten
möchte.
Die am 16.1.1622 in Calbe an der Saale als Tochter des Rittergutsbesitzers
Balthasar von Haugwitz und der Adligen Sophia von Veltheim geborene Anna
Margareta verlor mit 4 Jahren ihren Vater, der bereits in der Anfangsphase des
Dreißigjährigen Krieges in Brandenburg starb, und 1630 die Mutter sowie 4
Geschwister (- wahrscheinlich bei dem schrecklichen Massaker der Kaiserlichen in
Calbe am 22./23. September). Barmherzige Verwandte brachten die Waise nach Egeln
in das Zisterzienserinnen-Kloster. Als Johan Banér (1596-1641), der
berühmt-berüchtigte Feldmarschall, 1611 von der schwedischen Krone die Stadt
Egeln zum Lehen bekam und im Renaissanceschloss mit seiner Familie residierte,
wurde um 1633 eine Dame aus seinem Gefolge, die verwitwete Gräfin Elisabeth
Juliane von Löwenstein (1600-1640), deren Mutter eine Gräfin von Barby-Mühlingen
war, auf die Waise im nahe gelegenen Kloster aufmerksam. Sie nahm Anna Margareta
von dort weg und als Pflegekind an. Diese „Mutter Courage” der Oberschicht ließ
das Mädchen zusammen mit ihrer 4 Jahre jüngeren leiblichen Tochter von einem
Lehrer unterrichten und bilden. Damals schleppten nicht nur die einfachen
Soldaten ihre Familien und Habseligkeiten im Tross zu den Schlachtorten mit,
auch die Feldherren zogen mit Ehefrauen, Kindern, Freunden und Bediensteten in
den so genannten Feldherrenhöfen von einem Kriegsschauplatz zum anderen. Im
Gefolge des Feldmarschalls erlebte die etwa zwölf Jahre alte Anna Margareta
hautnah die Leiden der Zivilbevölkerung ihrer Heimat und das Arsenal der
Kriegsgräuel.
Ende der 1630-er Jahre muss der Unterführer in der Banérschen Hauptarmee, der
junge schwedische Generalmajor Carl Gustaf Wrangel (1613-1676) bei seinen
dienstlichen Kontakten im Feldherrenhof seines Chefs die jugendliche Schönheit
aus Calbe kennen gelernt und sich in sie verliebt haben.
Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Banér 1636, dem Wunsch der Sterbenden
entsprechend, die enge Freundin der Familie, die Gräfin Löwenstein. Die als
schön, klug, sanftmütig und tatkräftig beschriebene Frau, welche ausgleichend
auf den zunehmend psychisch verfallenden Banér wirkte, starb im Alter von 40
Jahren im Feldlager bei Saalfeld. Anna Margareta hatte zum zweiten Mal die
Mutter verloren. Um der jungen Frau Schutz zu geben, heiratete der 27-jährige C.
G. Wrangel die Achtzehnjährige ohne Einhaltung der Trauerzeit und nach einer
kurzen Verlobungszeit von nur zwei Wochen am 1. Juni 1640 im Saalfelder
Feldlager.
Den größten Skandal rief aber in den Adelskreisen Schwedens die Tatsache hervor,
dass der viel versprechende „Senkrechtstarter” Wrangel quasi in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion eine besitzlose deutsche Waise aus dem niederen Adel ohne
Einwilligung des Vaters geheiratet hatte.
Diese Blitz- und Überraschungstaktik hatte dem jungen Kommandeur - seit 1646
Feldmarschall und schwedischer Oberbefehlshaber - oft beachtliche militärische
Erfolge eingebracht, und nun wurde auch die überstürzte Heirat mit einer
glücklichen Ehe honoriert.
Bis zu ihrem 26. Lebensjahr musste Anna Margareta noch das unstete Wanderleben
im umherziehenden Feldherrenhof, während dessen sie 5 Kinder gebar, mitmachen
und die Drangsale des Krieges ertragen. Dann stieg der Stern der Wrangels noch
höher. Die schöne Frau aus Calbe, die 11 Kindern das Leben schenkte, genoss nun
den Frieden als Frau des Reichsmarschalls und Reichsrates, als Gräfin von Salmis
und als pommersche Landesherrin in Reichtum, Prunk und Wohlstand. Nach längerer
Krankheit starb sie 51-jährig am 20.3.1673 in Stockholm, ihr Mann am 25.6.1676
im Schloss Spyker auf Rügen.
2005
Vor 375 Jahren: Der Blutsonntag von Calbe (22.9.1630)
Erschienen im Oktober 2005
Während der Dreißigjährige Krieg schon das dreizehnte Jahr andauerte, war am 6. Juli 1630 endlich der ersehnte starke Beschützer des protestantischen Lagers in Pommern gelandet, König Gustav Adolf von Schweden. Viele evangelische Fürsten zögerten, aber der Administrator des Magdeburger Landes und die Stadt Magdeburg schlossen sich sofort dem Schwedenkönig an, obwohl das Gebiet noch in der Hand von katholischen Truppen und die Macht des Kaisers damals auf ihrem Höhepunkt war. Im September entsandte der Administrator in das befestigte Schloss Calbe eiligst 750 Musketiere, die aber sofort von mehreren Regimentern der Kaiserlichen unter General Viermond von Neersen verfolgt wurden. Ein Desaster war vorprogrammiert. Seit dem 14. September 1630 ließ Viermond die Stadt Calbe, das Schloss und die Schanzen auf dem Heger mit schweren 40-Pfünder-Geschützen und Feld-Schlangen unter Dauerbeschuss nehmen. Die Verteidiger, Soldaten und Bürger, wehrten sich tapfer von den Stadtmauern herab.
Am Sonntag, dem 22. September 1630, gelang es den Belagerern, durch Brandlegung am Schlosstor eine Schwachstelle zu erzeugen, die erschöpften Verteidiger, von denen 200 fielen, zu überrumpeln und um 11 Uhr vormittags in die Stadt einzudringen. Nun begannen die grauenvollsten 21 Stunden in der Neuzeitgeschichte Calbes, die Überwältiger kannten kein Pardon, es wurde geraubt, vergewaltigt und gemordet. In der Stadt selbst wehrten sich die bürgerlichen und militärischen Verteidiger noch bis 17 Uhr gegen die starke Übermacht. Das Plündern und Schänden aber dauerte bis zum nächsten Morgen 8 Uhr. Einige der Verteidiger, die nach dem Sieg der Übermacht nach Gottesgnaden geflüchtet waren, wurden von kroatischen Reitern durch eine Furt verfolgt und niedergemetzelt. Viele Bürger, auch die Geistlichen, versuchten sich in die St.-Stephani-Kirche zu retten. Die Plünderer rammten jedoch die schweren Eichentüren auf, öffneten gewaltsam das Gewölbe der Sakristei, raubten alle Kostbarkeiten und stöberten auch die Menschen auf, die sich auf den Türmen und in der Wrangelkapelle versteckt hielten. "Ein großes Leid hub an", schrieb ein Zeuge. Eine Vorliebe zeigten die Plünderer für Kleidung, besonders für Mäntel. Die Bürger wurden gezwungen, in Lumpen gehüllt, die zahlreichen Getöteten, u.a. den alten Bürgermeister Döring, in Massengräbern zu bestatten. Die Gruben hatte man eiligst, obwohl der Kirchhof schon offiziell seit 1551 geschlossen war, auf der Nord- und Westseite der St.-Stephani-Kirche ausgehoben.
Zur Mahnung und Anklage blieben noch mehrere Jahrzehnte lang die großen Blutflecke an der nördlichen Stadt-Mauer und das Blut eines um Gnade flehenden und in der Schlosskapelle erstochenen Bürgers vor der Kanzel sichtbar.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes (Neue Serie)
1. Karl der Große und Bischof Hildegrim
Erschienen im Dezember 2005
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Calbe ist nicht nur eine Stadt mit einer großen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Vergangenheit, ihre Historie ist auch ohne
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bedeutende Persönlichkeiten nicht vorstellbar. Als die ersten, deren Wirken im Dunkel der Anfänge unserer Lokalgeschichte zu erkennen ist, können Karl der Große und Bischof Hildegrim gelten.
Seit der Frühzeit war die schmale Landschaft an Elbe und Saale das Grenzgebiet zwischen germanischen und slawischen Stämmen. Entlang des westlichen Saaleufers verlief ein alter Handelsweg, u.a. auch ein Stück der Bernsteinstraße, mit einem Verkehrsknotenpunkt im Bereich des jetzigen Calbe. Nach der blutigen Unterwerfung des Stammes der Sachsen und damit auch unseres Gebietes durch die Franken wurde die Elbe-Saale-Grenzlinie durch die Anlage von Burgen und Königshöfen befestigt. Aus militärisch-logistischen Gründen legten die Franken, besonders unter Karl dem Großen (748 – 814), auf dem alten Handelsweg zwischen ihren Burgen Magdeburg und Halle eine Heerstraße an. Hier in verkehrsgünstiger Lage tauchte später in den Quellen auch der Königshof in „Calvo“ auf. Auf dieser Heerstraße zog 806 Kaiser Karl, nachdem er eine Versammlung und Schau seines Volksheeres nach Staßfurt einberufen hatte.
Dass zu dieser Zeit bereits erste Siedlungsanfänge im Bereich unserer Stadt zu finden gewesen sein müssen, geht aus dem Wirken eines namhaften Bischofs hervor.
809 bestellte Karl der Große den Benediktiner Hildegrim (um 760? – 827), ehemals Bischof in Châlons-sur-Marne, zum Bischof in Halberstadt. Hildegrim galt als ausgezeichneter Schüler des angelsächsischen Gelehrten Alkuin, der im Frankenreich auf Karls Anordnung hin ein umfassendes Bildungsprogramm durchgesetzt hatte. Der Lieblingsheilige Karls und Hildegrims war der christliche Märtyrer Stephanus. Die Halberstädter Chronik berichtet, dass Bischof Hildegrim in seinem Verwaltungsbezirk 35 Stephanskirchen, meist mit dem Ziel der Slawenmissionierung, anlegen ließ. Zu diesen gehörte sicherlich auch die Kirche des heiligen Stephanus („Sancti Stephani“) in Calvo. Da es unsinnig ist, einen wertvollen Kirchenbau in eine unbewohnte Wildnis zu stellen, muss angenommen werden, dass zwischen 809 und 827 an der Handels- und Heerstraße bereits nennenswerte Siedlungsanfänge Calvos vorzufinden waren. Dann würden Kaiser Karl der Große und sein später heilig gesprochener „Ostland“-Bischof Hildegrim zu den ersten Persönlichkeiten gehören, die mit Calbe in Verbindung gebracht werden können.
Über die Beziehungen der folgenden, wie zum Beispiel Kaiser Ottos I., zu Calbe wissen wir dann schon genauer bescheid.
(Bemerkung aus dem Jahr 2008: Die Hypothese, dass die Stephanskirche von Calbe auf Hildegrim zurückgeht, wird inzwischen stark angezweifelt!)
Historische Jahrestage 2006
Erschienen im Dezember 2005
Die an Geschichte reiche Stadt Calbe kennt auch 2006 „runde“ Jahrestage bedeutender Ereignisse, die zumindest einer Erinnerung wert sind:
531 Nach dem Sieg über die Thüringer besiedeln die Sachsen unser Gebiet (Ostfalen), der Name Nordthüringgau bleibt bestehen.
1131 Grundsteinlegung zum Stiftskloster "Gottes Gnade" (vor 875 J.)
1331 Nach der Beteiligung an der Ermordung des Erzbischofs Burchard III. (1325) Loskauf der Stadt von Bann und Interdikt
1381 Erstmals wird in Calbe eine Frau auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
1381 Erstmals eine schriftliche Fixierung des kaiserlichen (sächsischen) Rechtes auf der Basis realer Rechtsurteile in einem Weisungsbuch für Schöffen von Calbe (Wetebuch)
1381 Bürgerliche Kriegs-Mannschaften aus Calbe ziehen im Rahmen der Landfriedensordnung gegen Raubritternester.
1381 Roland erstmals erwähnt (vor 625 J.)
1531 Letztmalig wird in Calbe Sühnegeld als Strafe für einen Totschlag gezahlt. 1532 tritt die Strafprozess-Gerichtsordnung Kaiser Karls V. in Kraft, verbunden mit Todesstrafen für Verbrechen an Leib und Leben.
1631 Johan Banèr in Calbe (Schwedenzeit beginnt)
1631 Neuer Administrator: August von Sachsen-Weißenfels (1614-1680)
1656 Zweite (barocke) Rolandfigur von Gottfried Gigas (vor 350 J.)
1681 Ende einer letzten, nur noch schwachen Pestwelle in Calbe
1681 Die Bürger von Calbe huldigen nach altem Brauch dem neuen Landesherrn, Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, und seiner Gattin.
1731 Die Lehrer erhalten eine strenge Verwarnung, weil sie in Gegenwart der Schüler geraucht haben.
1731 Erstmals Isolierstation im Hospital
1756 Die „Neue Sorge“ (Gebiet der jetzigen unteren Arnstedtstraße) wird im Rahmen der preußischen Siedlungspolitik angelegt.
1781 Das „Dessauer Regiment“ in Calbe (Führungsstab in der Breite)
1781 Hohendorfer Busch gerodet
1806 Beginn der napoleonischen Besatzung (Westfalenzeit) (vor 200 J.)
1831 Erste Stadtverordnetenwahl nach der neuen preußischen Städteordnung
Als besondere Jahre bedeutsamer Ereignisse, auf die im Laufe des Jahres 2006 im „Calbenser Blatt“
eingegangen wird, ragen 1131 („Gottes Gnade“), 1381 in Verbindung mit 1656 (Roland) und 1806
(Westfalenzeit) heraus.
2006
Das Stiftskloster „Gottes Gnade“
Erschienen in drei Teilen im Januar, Februar und März 2006
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Inmitten einer sumpfigen Gegend dicht am Ostufer der Saale - gegenüber der Handelsstadt Calbe - legten vor 875 Jahren in einem feierlichen Akt zwei Männer die Grundsteine für eines der bedeutendsten Stiftsklöster des Mittelalters. Der eine, etwa 50 Jahre alt, war aus Frankreich gekommen und seit 5 Jahren Erzbischof in Magdeburg: Norbert von Xanten. Allerdings wurde er als der Begründer des neuen Prämonstratenser-Stiftsordens wegen seiner radikalen Vorgehensweise gegen die Verlotterung des geistlichen Lebens massiv angefeindet. König Lothar III. hatte ihn gerufen, um die deutsche Kolonisierung der slawischen Ostgebiete jenseits der Saale vorantreiben zu helfen. Dazu sollten als geistig-kulturelle Stützpunkte Stiftsklöster des neuen Ordens im Slawenland gegründet werden. Als „Mutterkloster“ hatte Norbert eben das auserkoren, welches nun auf einem Hügel bei Calbe erbaut wurde. Der andere der beiden Männer, welche die Grundsteinlegung vollzogen, war der etwa 30-jährige reiche Graf Otto von Reveningen (Röblingen am See) und Krottorf. Norbert hatte den – aus welchen Gründen auch immer – unverheirateten und kinderlosen Grafen dazu überreden können, einen großen Teil seines gesamten Vermögens für den Bau des Stiftes, das den Heiligen Victor von Theben als Patron haben sollte und auf den Namen „Gratia Dei“ (Gottes Gnade) getauft wurde, zu überschreiben. Die ersten Insassen waren 22 adlige Stiftsherren (Kanoniker), unter ihnen Otto von Reveningen, 19 Laienbrüder (Konversen) und 17 Laienschwestern (Nonnen), die jedoch streng von den Männern getrennt lebten und bald in ein gesondertes Nonnen-Kloster nach Jüterbog gebracht wurden. Die adligen Stiftsherren konnten über einen Teil ihres eingebrachten Vermögens verfügen und brauchten deshalb nicht so asketisch wie die Konversen leben. Außerdem nahmen sie als Weltgeistliche am öffentlichen Leben teil. Erzbischof Norbert starb, während die ersten Klosterbauten errichtet wurden, schwer krank drei Jahre später. Als Probst (Stiftsvorsteher) hatte er vorher noch einen jungen französischen Gefährten eingesetzt, der jedoch schon ein paar Monate später vom Papst auf einen gefährlichen Missionsposten nach Palästina berufen wurde. Der neu beauftragte Vorsteher, ebenfalls ein junger Franzose, ging so eifrig und streng vor, dass es unter Stiftsherren und Brüdern zu einem regelrechten Aufruhr kam, Otto aus seinem eigenen Stift wutentbrannt austrat und als Graf in die Welt zurück kehrte. (Nach seinem Tod wurde seine Leiche jedoch nach „Gratia Dei“ überführt und ehrenvoll bestattet.) Erst nachdem man den radikal-ungestümen Vorsteher weggelobt hatte und später der gemäßigte und umsichtige Kanoniker Gunther zum Probst gewählt worden war, ging es mit „Gratia Dei“ kulturell und wirtschaftlich aufwärts. Starke Politiker, wie die „Ostexperten“ Erzbischof Wichmann von Seeburg, die Markgrafen Konrad von Wettin und Albrecht der Bär sowie die Staufer-Kaiser selbst, stellten das bedeutende Stiftskloster, das seinen Einflussbereich durch Gründung immer neuer Tochterklöster ausdehnte, unter ihren Schutz. Nach 33 Jahren Bauzeit konnte auf dem höchsten Punkt des Hügels eine prächtige romanische Basilika mit zwei gewaltigen Türmen und sechs Glocken dem Heiligen Victor und der Jungfrau Maria geweiht werden. Unterhalb der Wirtschafts- und Wohngebäude befand sich ein ausgedehntes Kellersystem mit Bierbrauerei und Weinlager. Außer den „Chefs“, dem Propst (Ober-Vorsteher), dem Prior (Stellvertreter) und dem Senior (Vorsteher der Laienbrüder), gab es noch die Posten des Kellermeisters, des Kirchenvorstehers, des Vermögensverwalters und des
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Vorstehers eines vor den Klostermauern liegenden Hospitals, das eine stark besuchte Anlaufstelle für Pilger, Arme und Kranke geworden war. Dieses Hospital erhielt 1207 ein eigenes Kirchlein. Die kleine Maria-und-Johannes-Kirche ist heute das einzige sakrale Gebäude, das von der einst imposanten Anlage erhalten geblieben ist. Seit dem 14. Jahrhundert, vielleicht schon früher, existierte in Gottesgnaden eine klösterliche Schule. „Gratia Dei“ wurde während der mittelalterlichen Feudalfehden einige Male beschädigt, was aber dem weiteren Aufblühen keinen wesentlichen Abbruch tat. Inzwischen konnte es sich weitgehend von landesherrlicher Bevormundung befreien und trat sogar als Geld- und Grundstücksverleih-Institut für Adlige und Bürger auf. Die großen Kolonisationserfolge des Stiftsklosters aus der Pionierzeit gehörten aber im 14. und 15. Jahrhundert bereits einer ruhmreichen Vergangenheit an.
Die Geschäftstätigkeit des Klosters verlief auch im
15. Jahrhundert in den bereits eingefahrenen Gleisen weiter: Man kümmerte sich
um die soziale Fürsorge, trat als Kreditgeber durch Ankauf von zinsbringenden
Ländereien mit Wiederkaufsrecht für Bürger und Adlige auf, man strebte nach
weiteren Pfründen durch immer neue Patronate, und man machte Geschäfte mit den
Seelennöten der Menschen durch Seelenmessen, die an den vielfältigsten Altären
angeboten wurden, und durch die Einbeziehung immer neuer Heiliger, die die
kleinen und großen Probleme der Menschen lösen sollten. Die Zeiten der großen
Pioniertaten durch die berühmten Prämonstratenser von "Gratia Dei" waren vorbei.
Inzwischen hatte sich das Kloster Gottesgnaden den Ruf einer Heil- und
Bildungsstätte, aber auch eines "Bankhauses" erworben. Im Laufe der Zeit merkten
einige realistisch denkende Männer in der Führung des Prämonstratenser-Ordens,
dass die Verweltlichung ihrer Klöster erschreckend vorangeschritten war. Man
hatte erhebliche Nachwuchssorgen, und aus den einst stolzen "Ordensburgen" waren
mehr und mehr verlassene Gemäuer geworden. Bescheidene Versuche der inneren
Reformierung verliefen jedoch im Sande. 1475 kam es zum Streit, weil sich die
Bürger Calbes nicht länger vom Probst in Dingen der Schulrektor-Wahl bevormunden
lassen wollten, und sogar die hörigen Bauern gerieten mit dem Kloster in „Fehde
und Zwietracht“, wie aus Briefen hervorgeht.
„Gratia Dei“ wurde 1525 beschädigt, als es im Rahmen des Bauernkrieges zu
Tumulten und Unruhen kam. In der Umbruchzeit liefen besonders die wenigen
jüngeren Insassen aus den Klöstern weg. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts
schrumpfte die Kloster-Gemeinschaft in Gottesgnaden auf drei Brüder. Während
sich in der Stadt Calbe die evangelische Lehre bereits 1542 durchgesetzt hatte,
blieb das Kloster noch 11 Jahre länger römisch-katholisch. Im Schmalkaldischen
Krieg (1546/47) wurde das Kloster hart attackiert, und die Kleinodien wurden
geraubt. 1553 bekam „Gottes Gnade“ einen ersten und einzigen evangelischen
Propst. Im ständig wechselnden Hin und Her der Besatzungen während des
Dreißigjährigen Krieges wurden die große, kahl geplünderte Basilika, in der nun
die Fledermäuse und Greifvögel hausten, und die Wirtschaftsgebäude so ruiniert,
dass selbst eingefleischte Protestanten der Jammer packte. Vor dem Abzug der
Schweden ließ Feldmarschall Banér nicht nur die Klosteranlage, sondern auch
gleich noch die Brücke über die Saale niederbrennen. Eine Inventur nach dem
Dreißigjährigen Krieg ergab, dass die Gebäude von „Gottes Gnade“ „ohne Dach mit
eingefallenen Mauern“ da standen.
Die Reste des nun erneut säkularisierten Klosters wurden zusammen mit Trabitz,
Schwarz und den Vorwerken Chörau und Patzetz sowie den Mühlen Calbe und Chörau
zu einem Amt (ländliche Verwaltungseinheit) zusammengefasst. Das Vorhaben, aus
der klösterlichen Anlage eine Landesschule zu machen, für die 1653 schon eine
Schulordnung ausgearbeitet worden war, scheiterte, wie Hävecker betonte, an den
Politikern. Als 1695 am Mönchsheger eine neue Saale-Schleuse gebaut wurde, kam
der Befehl König Friedrichs I., den Chorraum der Basilika-Ruine von Osten her so
abzureißen, dass die Steinquader, aber auch die Skulpturen zum Schleusenbau
verwendet werden konnten. So geschah es auch. Für die böhmischen Einwanderer in
Berlin wurde in der Friedrichstadt eine Kirche errichtet. Zum Guss der
vorgesehenen zwei Glocken ließ König Friedrich Wilhelm I. die große Glocke aus
dem inzwischen zur Ruine verfallenen und als Materialspender dienenden Kloster
"Gottes Gnade" einschmelzen. Eine dieser beiden Glocken wurde nach einem
Luftangriff 1943 gerettet und befindet sich heute im Kirchsaal der
Evangelisch-Reformierten Bethlehemsgemeinde in Neukölln. Die noch übrig
gebliebenen Steine der Gottesgnadener Hauptkirche wurden in alle Winde verstreut
und verbaut. Ab und zu findet man noch einen Quader aus der einstmals stolzen
Anlage. Nach 1680 war der wieder aufgebaute Wirtschaftstrakt des ehemaligen
Klosters in eine preußische Domäne umgewandelt worden, und als solche blieb er,
stark verändert, bis zur Bodenreform nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
bestehen.
Der Roland von Calbe
(1. Die gotische Figur vor 625 Jahren)
Erschienen im April 2006
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Was geschah in der Zeit des ersten Rolands in unserer Gegend? 1361 wendete sich das Schicksal für unsere Stadt grundlegend. Auf den Bischofsstuhl kam der nach Wichmann bedeutendste Förderer und Wohltäter der mittelalterlichen Stadt Calbe, Dietrich Portitz. Sein Wirken war eng verbunden mit der Persönlichkeit Kaiser Karls IV. (1316 – 1378). Dieser fähige Kaiser, der durch eine geschickte Hausmacht- und Heiratspolitik sowie durch gesetzliche Regelwerke von sich reden machte, hatte zwei Ziele vorrangig im Auge: die Schaffung stabiler (kaiserlicher) Machtverhältnisse im Reich und die Konsolidierung der Wirtschaft darin. Bei der Verwirklichung dieser Ziele stand ihm ein 16 Jahre älterer Wirtschafts- und Finanzfachmann ersten Ranges als Berater und enger Freund zur Seite, der aus dem Bürgertum stammende Dietrich Portitz (Regierung 1361 – 1367). Als des Kaisers „rechte Hand“ war er nach diesem der wichtigste und mächtigste Mann im Reich, und unter ihm begann eine Zeit der zweiten wirtschaftlichen Blüte unserer Stadt.
Die Reichspolitik Karls IV. und seine Idee des Kaiserrechts: Karl IV. hatte in seinem Reich, dessen politischen Schwerpunkt er in den nördlichen Teil verlagert hatte, eine ideologische Atmosphäre geschaffen, die sich stark auf Karl den Großen (748 – 814) als den „guten Gesetzgeber und Richter“ bezog. Er stellte sich in die direkte Nachfolge Karls des Großen, um seinen Anspruch auf eine starke Zentralgewalt zu betonen. Das u. a. von Eike von Repgow aufgeschriebene norddeutsche (sächsische) Recht sollte als Kaiserrecht zur gesetzgeberischen Klammer des deutschen Reiches werden. Vorher war vorwiegend intuitiv und sporadisch auf der Basis alter Gewohnheitsrechte geurteilt worden.
Rolandfiguren als Symbole des Kaiserrechts: Nach Meinung führender Rolandforscher repräsentierten die Rolandfiguren kaiserliches Recht und waren Zeichen kaiserlicher Privilegien bzw. der angestrebten Bindung der Stadt an den Kaiser. Die konzentrierte Aufstellung der Rolandfiguren in Norddeutschland lässt sich aus der nach Norden verlagernden Hausmachtpolitik Karls IV. erklären, wo die Städte ihrerseits nach Loslösung vom geistlichen Stadtherrn und Erlangung der Reichsunmittelbarkeit (und damit des Kaiserrechtes bzw. kaiserlicher Privilegien) strebten. Auch unser Ortschronist aus dem 18. Jahrhundert, Johann Heinrich Hävecker, erklärte, dass es sich bei Rolandfiguren um Symbole „kaiserlichen Gerichts“, beruhend auf „römischem, fränkischem und sächsischem Recht“, handelte. Sie hätten an vielen Orten „im Namen des Kaisers den Gerichten vorgestanden“.
Auftauchen unseres Rolands in den Quellen: Als man ihn 1381, also vor 625 Jahren, von seinem Standplatz auf dem Alten Markt herunter nahm, um ihn vor dem 5 Jahre zuvor fertig gestellten neuen Rathaus zu postieren, wurde er erstmalig im Januar 1382 in Handwerkerrechnungen erwähnt. Da wohl niemand einen Roland vor einem alten Ratsgebäude aufstellt, um ihn dann doch noch vor das inzwischen schon errichtete neue Rathaus zu stellen, muss er schon vor 1376 existiert haben. Kaiser Karl IV. hat sicherlich noch vor seinem Tode der Stadt die Aufstellung gestattet oder sie gar befohlen. 1381 war immerhin auch das Jahr, in dem erstmalig das Wetebuch (Weisungsbuch) der Schöffen von Calbe auf der Grundlage sächsischen Rechts auftauchte. Das ist gewiss kein Zufall. Der erste Roland, von dessen Aussehen wir nichts wissen, ist sicherlich in Verbindung mit dieser Sammlung von Gerichtsurteilen und somit auch mit der angestrebten Herstellung eines einheitlichen kaiserlichen Rechtssystems zu sehen.
Wer war Roland? Nach der Sage war Roland, der Markgraf der Bretagne, ein Sohn bzw. Lieblings-Neffe Karls des Großen und gehörte als Paladin zu dessen engerem Führungszirkel. 778 deckte der treue Roland den Rückzug der Franken im Krieg gegen die aufständischen Basken, als er, bis zum letzten Blutstropfen fechtend, einem Überfall zum Opfer fiel. Mit seinem Horn konnte er vorher noch das Hauptheer warnen. Der Märtyrertod des treuen Vasallen bekam in der Zeit des Hochmittelalters immer mehr ideologischen Symbolwert. Um Roland entwickelte sich ein religiöser und politischer Kult, der in Rolandsliedern und Figurenaufstellungen seinen Ausdruck fand, im 12. Jahrhundert von Frankreich auf Deutschland übergriff und im 14. Jahrhundert von Karl IV. besonders im norddeutschen Raum neu belebt wurde. Zwei der wichtigsten Attribute Rolands waren seine Lockenpracht, ein altes germanisches Zeichen des göttlichen Königsheils, und sein zum Himmel erhobenes Schwert Durendart, Symbol der von Gott über Karl den Großen an Roland verliehenen Macht und beruhigendes Zeichen göttlichen und kaiserlichen Schutzes. Sicherlich trug unsere erste Rolandfigur auch diese Attribute und den Schild mit dem Stadt- oder Erzbischofs-Wappen, mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch keinen Helm.
Der Roland von Calbe
2. Die barocke Figur vor 350 und ihre steinerne Kopie vor 30 Jahren)
Erschienen im Juni 2006
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Vor 350 Jahren: Ein neuer Roland muss her! „Demnach denn das alte Rolandsbild lange ohne Obdach gestanden und für Wetter und Winden, weil es nur von Holz verfertiget gewesen, schadhaft worden war, so hat der Magistrat aus Beisorge, dass es endlich gar umfallen möchte, Anno 1658 ein neues, wiewohl auch nur von Holz, aushauen, aufrichten, und mit einem Gehäuse und Schiefer-Dach verwahren, auch mit einem Gatter oder Geländer umfassen lassen, an welchem als einer öffentlichen Gerichts-Stelle das Halseisen zur Abstrafung öffentlicher Frevler befestiget ist.“ So schrieb Hävecker über den neuen Roland von 1656. Dass die Bürger Calbes an eine neue, riesenhafte Rolandfigur ausgerechnet 6 Jahre nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg dachten, als 40% der Häuser der Stadt zerstört und entvölkert standen, als die Einwohnerschaft entsetzliche Verluste durch Terror, Flucht und Seuchen zu beklagen hatte, zeugt davon, welch Bedeutung sie dem Standbild beimaßen. Es waren wohl für sie ein Symbol althergebrachter städtischer Prosperität und ein Ansporn, die ursprüngliche Blüte Calbes mit vereinten Kräften so rasch wie möglich wieder herzustellen. Zugleich besaß die Roland-Neuerrichtung in einer Zeit des totalen Zusammenbruchs der Zentralgewalt, als sich die Territorialfürsten um Konsolidierung ihres kleinstaatlichen Absolutismus bemühten, eine gewisse politische Sprengkraft und war eine Herausforderung. Der neue Roland war über 4 Meter hoch und vom Magdeburger Holzschnitzer-Meister Gottfried Gigas, der auch die Altarfiguren für die St.-Stephani-Kirche geschaffen hatte, im Herbst 1656 aus einem Eichenstamm geschnitzt worden.
Der Streit: Der nun einsetzende, zwei Jahre andauernde Streit zwischen dem landesherrlichen Schlossamt und dem Magistrat ist symptomatisch für die neue Qualität der Sinnbildlichkeit des Calber Rolands. Die Beamten des Administrators August von Sachsen-Weißenfels weigerten sich, die Aufstellung der neuen Figur zu genehmigen, weil sie darin ein Wiederaufleben der städtischen Autonomiebestrebungen erkannten. Diese kommunale Freiheitsbewegung hatte sich schon vor dem Dreißigjährigen Krieg in einem vehementen Wehren des Rates gegen die Versuche der protestantischen Administratoren geäußert, die Rechte der Stadt Calbe zur Durchsetzung absolutistischer Machtstrukturen zu beschneiden. Zwei Jahre dauerte nun das Gerangel zwischen Schlossamt und Stadt um die Aufstellung der Figur, dann kam es 1658 zu einem Kompromiss, in dem beide Seiten versicherten, die bisher verankerten Rechte der Gegenpartei unangetastet zu lassen. Alles bürgerliche Streben nach Unabhängigkeit schlug fehl, als 1680 aus dem Erzbistum das brandenburgisch-preußische Herzogtum Magdeburg wurde und die Hohenzollern-Monarchen ihren Absolutismus durchsetzten. Sie gaben aber den Städten im Rahmen ihrer Gesetzlichkeit Entfaltungsfreiraum, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet. Calbe wurde, nicht zuletzt auch durch den Zuzug hugenottischer Einwanderer, zu einem bedeutenden Tuchproduktions-Zentrum.
Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Zeit: Nach der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 versinnbildlichte der Roland den nationalen Stolz der Gründerzeit, er erhielt einen bronzefarbenen Anstrich und eine Schärpe in den Farben schwarz-weiß-rot um den Brustpanzer. Auch im 19. und 20. Jahrhundert nagten trotz der mehrmaligen Öl- und Farb-Anstriche Wind und Wetter an unserem Roland. Er musste seinen Standort wechseln (u. a. an den Nordgiebel der Knaben-Volksschule) und verschwand zeitweilig sogar in einem Lager. Ein von engagierten Laien ausgeführter Ersatz von morsch gewordenen Gliedmaßen des Standbildes führte teilweise zu anatomisch fragwürdigen und lächerlich wirkenden Ergebnissen. In der NS-Zeit plante man, dem Roland einen herausgehobenen, gesonderten Standplatz auf dem Markt zu geben. Der Zweite Weltkrieg verhinderte das Vorhaben. Die hölzerne Figur wurde wegen der erwarteten Bomber-Angriffe geschützt gelagert. Hier ereilte sie in dem bitterkalten Nachkriegswinter 1946/47 ein beinahe symbolisches Ende. Frierende Einwohner verheizten das jahrhundertealte Standbild. Nur der Schild blieb übrig.
Und noch einmal: Ein neuer Roland muss her! Als es den Calbensern in den 1960er Jahren wieder wirtschaftlich besser ging, wollten sie auch ihre alte Symbolfigur wiederhaben. Aber erst mit der veränderten DDR-Geschichtsrezeption seit 1973 wurde die Aufstellung einer Replik genehmigt. 1976 konnte ein vom Bildhauer Eberhard Glöss in Anlehnung an die Figur von 1656 geschaffener, viereinhalb Meter hoher Sandstein-Roland enthüllt werden. Er zeugte in einer Zeit des erneuten wirtschaftlichen Aufschwunges der Stadt von der Ehrerbietung der Calbenser gegenüber der eigenen bedeutenden Geschichte.
Noch immer richtet der Held und Heilige in barocker Rüstung mit Helm sein Schwert Durendart gen Himmel, um uns vor Zwietracht und Unrecht zu bewahren.
Tempelritter in Brumby
Erschienen im Juni 2006
Das von Dan Brown und Piet van Poll verfasste Buch „The Da Vinci Code“, im Deutschen unter dem Namen „Sakrileg“ erschienen, wurde von Hollywood verfilmt. Die rein fiktive, an den Haaren herbei gezogene „Enthüllungs“-Story entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage und ist das, was sie sein soll: provokante Fantasy-Literatur und Hollywood-Kino. Aber Film und Buch haben immerhin das Interesse an den geheimnisumwitterten Tempelrittern auch bei Menschen, die sich sonst nicht für Geschichte interessieren, geweckt.
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Zu Beginn des 12. Jahrhunderts, als neue geistliche Orden entstanden und u. a. das Prämonstratenser-Stift „Gottes Gnade“ bei Calbe errichtet wurde, gründeten adlige Ritter in Jerusalem die Bruderschaft „Arme Kriegskameraden Christi und des Tempels Salomos“. Im Unterschied zu den „Johannitern“ und „Deutsch-Rittern“ verschrieben sich die „Templer“ nicht karitativen Zielen, sondern verstanden sich als militärische Schutztruppe für christliche Palästina-Pilger. Die Mönchs-Ritter lebten nach den zisterziensischen Regeln und trugen einen weißen Mantel mit dem roten Tatzenkreuz auf der linken Brustseite. Nach dem Fiasko des siebten und letzten großen Kreuzzuges 1270 zogen sich auch die Templer aus Palästina nach Europa zurück. Sie waren durch ihre hierarchische Ordnung, strenge Disziplin und erfolgreichen Geldtransaktionen als Bruderschaft reich und mächtig geworden.
Laut Regesten des Erzbistums Magdeburg gab es in unserem Gebiet vier Templer-Komtureien, deren Großpräzeptor Friedrich von Alvensleben war. Da die Alvenslebens damals in Bezug auf die Burg Brumby öfter genannt wurden und auch später in enger Verbindung zu Dorf und Kirche standen, ist anzunehmen, dass es stimmt, was J. H. Hävecker in seiner Chronik schrieb: Das Rittergeschlecht derer von Hornburg hätte einen der beiden in Brumby befindlichen Adelshöfe besessen, der ein Templersitz gewesen sei. Nach einer anderen Quelle waren davor die Ritter von Brumby dort ansässig gewesen.
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Templerburg-Ruine in Brumby |
Es ist bekannt, dass die Tempelritter 1307 auf Betreiben des französischen Königs Philipp IV. von Papst Clemens V. wegen ihrer angeblichen gnostischen Einstellung, die im Göttlichen mehr als das sah, was die Kirche vorschrieb, und wegen behaupteter homosexueller Praktiken zu Ketzern erklärt wurden. In einer Geheim-Aktion verhaftete man die Templer und verbrannte sie meist auf dem Scheiterhaufen. Ihr Reichtum floss in die Güter der exekutierenden Fürsten. Einer der habgierigen Vollstrecker war der Magdeburger Erzbischof Burchard III. Den Befehl des Papstes an ihn, die Templer seines Territoriums der Inquisition zu überstellen, zitiert Hävecker in seiner Chronik.
Es gibt eine überlieferte Version, dass Burchard an einem Tag alle Tempelritter in seinem Erzbistum verbrennen ließ. Es wäre aber ebenso eine andere Darstellung glaubhaft, eine Revolte der gesamten Ritterschaft hätte den Erzbischof davon Abstand nehmen lassen. Auf alle Fälle zog er das nicht unerhebliche Vermögen der Templer ein. Auch dieses Verbrechen trug dazu bei, dass Burchard III. 1325 von wütenden Bürgern umgebracht wurde.
Die wieder etwas hergerichtete Ruine der geschleiften Tempelritterburg kann man laut Chronik Brumbys von Wilhelm Koch (1938) und der Sammlung Duncker, Provinz Sachsen (Zentral- und Landesbibliothek Berlin) im romantischen Schlosspark von Brumby sehen, der Ende des 18. Jahrhunderts um diesen merkwürdigen Ort herum angelegt wurde.
Turmgeschichten
Erschienen im Juni 2006
Die nun anstehende gründliche Sanierung der Türme an unserer Stadtkirche „Sancti Stephani“ (des Heiligen Stephans), für die um geneigte Spenden gebeten wird, soll Anlass sein, einen ganz kurzen Blick in die Geschichte des Kirchen-Turmhauses zu werfen.
Die jetzige stolze St.-Stephani-Kirche hatte etwas kleinere Vorgängerbauten, die bis ins 10., vielleicht sogar bis ins 9. Jahrhundert zurück datiert werden können.
Wie der romanische Unterbau des wuchtigen Turmhauses zeigt, lag sicherlich schon zur Zeit der ersten großen wirtschaftlichen und politischen Blüte Calbes im 12. Jahrhundert unter Erzbischof Wichmann das Konzept einer größeren Stadtkirche in den heutigen Ausmaßen vor. Man hatte wohl in Zeiten der Prosperität mit dem Bau der Westseite begonnen, musste aber das Vorhaben wegen der welfischen Vernichtungs-Feldzüge, bei denen Calbe dreimal verwüstet wurde, abbrechen.
In der ersten Phase des Turmhaus-Baues war noch nicht an das imposante Westportal, wie wir es heute sehen, gedacht worden. Das spätgotische Portal wurde erst beim Bau der Hallenkirche im 15. Jahrhundert in das Turmhaus eingefügt. Das dazu notwendige Herausbrechen des ursprünglichen Mauerwerks und Einmauern des neuen Portals stellt eine beachtliche bautechnische Leistung dar.
Das Turmhaus, zumindest die als älter einzuordnende Südseite, muss im Wesentlichen schon in der Mitte des 14. Jahrhunderts fertig gewesen sein, denn der Turmwächter der Stephanskirche wurde 1356 "wegen seines ihm gebührenden Gehaltes beim Rate der Stadt vorstellig." Er hatte seine Wohnung hoch oben im Südturm. Der Balken für den Lastenaufzug ist noch an der Turm-Südseite zu sehen. Der Turmwächter war verpflichtet, am Tage viertelstündlich und nachts halbstündlich in die Runde zu spähen. Bei einem ausgebrochenen Brand oder anrückenden Feinden musste vom Turm herab Alarm mit dem Horn und der Glocke gegeben werden. Die Richtung, aus der Gefahr drohte, markierte der Türmer tags mit einer Fahne, nachts mit einer Laterne. Die Utensilien zur Brandbekämpfung waren im Mittelalter und der frühen Neuzeit in Schuppen außen am Altarraum der Kirche untergebracht. An den Wassertoren füllten bestimmte dafür vorgesehene Bürger große Fässer mit Löschwasser aus der Saale, luden sie auf Pferdewagen, und ab ging es im schnellsten Galopp zur Brandstelle. Wer zuerst dort eintraf, bekam aus der Stadtkasse eine Belohnung.
Der größte neuzeitliche Brand Calbes am 6. März 1683 wurde durch die Nachlässigkeit eines Türmers nicht rechtzeitig entdeckt. Er hatte seine Spähpflichten nicht erfüllt, als eine unachtsame Magd Ascheglut im Hof eines Patrizierhauses in der Breite verschüttete. Bei der damaligen Bauweise mit viel Holz und Stroh breitete sich das Feuer bei ungünstigem Südwind rasend schnell aus und vernichtete die Hälfte des Gebäudebestandes der Stadt und der Schlossvorstadt. Nur durch die nicht gern gesehenen Soldaten des „Großen Kurfürsten“ (- seit 1680 gehörte Calbe zu Brandenburg-Preußen -) konnte noch Schlimmeres verhindert werden. Der Türmer war trotz seiner Unschulds-Beteuerungen sicherlich bestraft worden.
Der Glöckner hatte für das Glocken-Geläut zu Gottesdiensten und Festen, aber auch bei Hinrichtungen zu sorgen. Ein solcher Bediensteter der St.-Stephani-Kirche war ebenfalls mit Recht und Ordnung in Konflikt geraten. Er hatte trotz eines strengen Verbotes in der beliebtesten Gaststätte vor Calbe, dem „Goldenen Stern“ (heute Schlossstraße 83), mit dem Henker gezecht. Da die Scharfrichter (- wie die Dirnen und Bader -) als „unehrbar“ galten, war für jeden guten Bürger der Umgang mit ihm tabu. Als der Glöckner nicht mehr ganz Herr seiner Sinne war, hatte er den Henker umarmt und gerufen: "Du bist mein Bruder, ich ziehe den Strick nach unten und du nach oben!" Der leutselige Mann aus dem Turm wurde bestraft und entlassen.
Seit der frühen Neuzeit machten Stadtmusikanten zu Festtagen von den Türmen herab kirchliche Blasmusik, ein Brauch, der bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gepflegt wurde.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
2. König Heinrich I., Kaiser Otto I. und Markgraf Gero
Erschienen im Juli 2006
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Heinrich I. | Otto I. | Gero |
Nach der Teilung des karolingischen Großreiches verlagerte sich der Schwerpunkt der fränkischen Zentralmacht in das westliche Reichsgebiet, das heutige Frankreich. Die ostfränkischen (frühdeutschen) Stämme blieben „außen vor“. Um sich besser gegen die massiv stattfindenden Überfälle durch die Reiterscharen der Magyaren wehren zu können, schlossen sich einige ostfränkische Herzogtümer zusammen. 919 wurde der Sachsen-Herzog Heinrich (um 876 – 936) zum ostfränkischen König gewählt. Auch die Menschen im calbischen Gebiet, das damals noch am östlichen Rand des jungen Reichsverbandes lag, hatten unter den ständig einfallenden Magyarenhorden zu leiden. König Heinrich schuf eine neue Waffe, die schwere gepanzerte Reiterei, und begann grenzsichernde Maßnahmen einzuleiten: Er bildete in den östlichen Landesteilen, also auch bei uns, aneinander gereihte Militärbezirke mit Burgen und militärischen Besatzungen. Dieses Burgwardsystem brachte sein Sohn Otto (912 – 973), der spätere erste deutsche Kaiser (seit 965), zur Perfektion. So entstanden in unserem Gebiet die Burgwarde Magdeburg, Frohse, Barby und Calbe. Jeder 9. waffenfähige Mann eines Burgwardbezirkes musste in der Burg dienen. Solche zunächst unfreien Ministerialen (Dienstmannen) wurden später Hauptbestandteil der mittelalterlichen Ritterschaft. Die Burg von Calvo stand auf dem erhöhten Ufer des Saalebogens, etwa dort, wo sich die ehemalige Wolldeckenfabrik befand. Sie war eine Fluchtburg und bestand vorwiegend aus Holz.
Die Siedler unseres Burgwardbezirkes fanden bei feindlichen Angriffen in dieser Burg Schutz, deren Oberverwalter der berühmt-berüchtigte Markgraf Gero (um 900 - 965) war, der auch Eigenbesitz an Grund und Boden in der Gegend um Calbe besaß. Gero, einerseits ein kulturvoller und fähiger Politiker, hatte andererseits eine grausame, von zweckorientierter Verschlagenheit bestimmte Gesinnung. Um die Slawen schneller unterwerfen zu können, ließ er bei einem Gastmahl 30 slawische Fürsten ermorden, zahlte an die Kirche ein Sühnegeld und ließ in Gernrode einen „Sühnestein“ aufstellen.
Mit Hilfe der neuen Panzerreiterei schlug Otto I. 955 die Magyaren endgültig. Vor der Entscheidungsschlacht am 10. August, dem Tag des Heiligen Laurentius, hatte Otto geschworen, im Falle eines Sieges ein neues Bistum zu gründen und eine Vielzahl von Laurentiuskirchen errichten zu lassen. Die calbische Lorenzkirche gehört möglicherweise zu diesen Bauten.
Otto I. ist für Calbe auch deshalb so bedeutsam, weil er 936 u. a. die Arbeitskraft von 15 slawischen Leibeigenenfamilien in „Calvo“ dem neu gestifteten Nonnenkloster in Quedlinburg „spendierte“. Damit war die Existenz unseres Ortes urkundlich belegt.
Juden im mittelalterlichen Calbe
Erschienen im Juli 2006
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Nach der gewaltsamen Vertreibung aus ihrer nahöstlichen Heimat im 1. Jahrhundert begannen jüdische Menschen im mittelalterlichen Europa neue Existenzen aufzubauen. Religiös, aber hintergründig auch wirtschaftlich motiviert, wurden sie von den Christen als Feinde deklariert. Sie durften keine "ehrbaren" Berufe ergreifen und waren von den Innungen und Zünften ausgeschlossen. So begannen sie sich auf den Kleinhandel, auf intellektuelle und künstlerische Tätigkeiten sowie auf den Geldverleih (Wucher) zu konzentrieren. Letzteres war Christen aus religiösen Gründen verboten, bedeutete aber in Zeiten der verstärkt aufkommenden Geldwirtschaft eine Notwendigkeit. Weil sie mit ihrem Geldverleih und den geforderten Schuldzinsen die Notlagen der Leute ausnutzten, wurden die Juden meist verachtete und gehasste Außenseiter der Gesellschaft, die als soziale Sündenböcke fungieren mussten. Von der Kirche oft sanktioniert, machte sich der Hass des Pöbels in blutigen Pogromen Luft. Hatte man aber die Juden totgeschlagen, war man (im wörtlichen Sinn) mit einem Schlag seine Schulden los.
In Mafia-Manier hielten sich die Fürsten ihre so genannten Kammer- oder Schutzjuden, die niemand anrühren durfte, die aber dafür als Finanziers den fürstlichen Reichtum vermehren bzw. "Schutzgeld" in die stets leeren Kassen der Landesherren zu zahlen hatten. Darüber hinaus gab es Toleranzjuden, die zu arm waren, Schutzgelder zu zahlen, die man aber duldete, weil sie einen großen Teil des Landhandels abwickelten. Völlig ungeschützt waren die illegal lebenden armen Betteljuden.
Die jüdische Bevölkerung musste im Mittelalter besondere Kleidung tragen (spitze Hüte und gelbe Mäntel) und in abgesonderten Vierteln wohnen. Das Wort Ghetto stammt entweder aus dem Hebräischen (=Absonderung) oder aus dem Italienischen (=Gasse, ärmlicher Wohnbezirk). Im Jiddischen, einer aus dem Mittelhochdeutschen entstandenen Sprache, heißt das Juden-Viertel "Stetele".
In Calbe lagen diese Viertel im nördlichen Teil der Tuchmacherstraße und in der Gasse "Am Wassertor". 1371 erwarben 19 Neubürger das Bürgerrecht in Calbe, darunter vier Juden bzw. jüdische Familien. Dass Juden Bürger in unserer Stadt werden konnten, wirft ein positives Licht auf die politischen und geistigen Verhältnisse während der Zeit der großen Prosperität Calbes in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Auch 1392 gab es noch jüdische Bürger in Calbe, denn eine Verordnung Erzbischof Albrechts III. von Querfurt gestattete ihnen nur zusammen mit den Knochenhauern (Fleischern) Vieh zu schlachten, mit Ausnahme der Fastenzeit. Hundert Jahre später, vielleicht unter dem Eindruck der großen Pest-Pandemien in Europa, war von dem bürgerlichen Miteinander und der Toleranz nichts mehr zu spüren.
1493 wurden in einem besonders schäbigen Schachzug des Erzbischofs Ernst von Sachsen-Wettin (Regierung 1476-1513) alle Juden aus dem gesamten Magdeburger Erzbistum vertrieben. In Calbe z. B. verkaufte der Erzbischof ihren Besitz und ihr Vermögen, auch ihre jüdische Schule, an die Calber Bürger! Dadurch konnte der Ratsherr Hans Kytzig 1512 die leer stehende Schule erwerben und zum Privathaus ausbauen. Eine gehässige Karikatur an der St.-Stephani-Kirche erinnert an die Zeit der mittelalterlichen antijüdischen Propaganda in Calbe.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
3. Ibrahim Ibn Jacub
Erschienen im August 2006
960/61 zog der jüdische Fernhändler und Gelehrte Ibrahim Ibn Jacub von Magdeburg durch Calbe nach Prag. Der Reisende kam von weither aus Andalusien im damals moslemisch-maurisch beherrschten Süd-Spanien. Er hatte das christliche Nord-Spanien besucht und war auf einem alten Ost-West-Handelsweg durch Frankreich über Rouen nach Norddeutschland gelangt, wo er die Gebiete der Wenden (Slawen) in Schleswig und Mecklenburg durchquerte. In jener Zeit verlief die ethnische und politische Grenze zwischen deutschen und slawischen Völkerschaften an Elbe und Saale. Zu Ibn Jacubs Haupt-Handelswaren gehörten slawische Leibeigene, die er von einigen Wenden-Fürsten kaufte. Über den Umschlagplatz Verdun gelangte die Menschen-Ware in die muslimischen Gebiete. Die unglücklichen Leute waren als Kriegsgefangene oder durch Schuldknechtschaft in diese grausame Lage geraten. Übrigens sind die Begriffe „Sklave“ und „Slawe“ seit dem frühen Mittelalter etymologisch eng verwandt und im Englischen heute noch identisch („slave“). Im Sommer 961 hatte Ibn Jacub mit König Otto I. ein ausführliches Gespräch in Magdeburg. Dann zog der Händler weiter über Calbe, Nienburg und Wurzen nach Prag. Von dort kehrte er nach Deutschland - also in die Gebiete westlich der Elbe und Saale - zurück, um nach Rom weiter zu reisen, wo er erneut auf den inzwischen zum Kaiser gekrönten Otto I. traf. Im März 973 kamen die beiden noch einmal in Quedlinburg zusammen.
Bei seinen wahrscheinlich drei Reisen lernte Ibrahim nicht nur die mitteleuropäischen Herrscher, sondern auch Land und Leute sowie deren Kultur kennen. Der Gelehrte schrieb er in seinem „Bericht über die Slawenländer“ alles akribisch genau und wohltuend sachlich auf. Als Jude im muslimischen Kalifat in Spanien war Ibn Jacub mit dem Gedanken der Toleranz aufgewachsen. So tauchen in seinem Bericht keine gehässigen und überheblichen Bemerkungen über die Slawen auf, wie sie die christlichen Deutschen gerne gebrauchten. Detailliert beschrieb Ibn Jacub Straßen, Städte und Bauten, Wirtschaft und Verkehr. Sein Werk ist für uns eine der wichtigsten Quellen über das Leben der Slawen und die Verhältnisse in deutschen Städten im 10. Jahrhundert. Übrigens schilderte er auch das überaus reiche, inzwischen verschollene Vineta in Mecklenburg. Über seinen Weg auf der alten Bernstein- und Heerstraße nach Nienburg an der Burg Calbe vorbei berichtete Ibrahim Ibn Jacub: „Der Weg von Magdeburg nach dem Lande des Boleslaw, von da nach der Feste Calbe beträgt 10 Meilen und von da nach Nub Grad [Nienburg] 2 Meilen. Das ist eine Feste aus Steinen und Mörtel gebaut, und sie liegt ebenfalls an dem Flusse Salawa [Saale], und in ihn fällt der Fluss Bode.” Damit ist die Existenz einer Burganlage in Calbe quellenmäßig belegt. Da Ibn Jacub aber betonte, dass die Feste Nienburg aus Steinen und Mörtel gebaut war, wird klar, dass unsere Burg vorwiegend aus Holz bestanden hat. Nach Indizien späterer Quellen könnte diese „Sudenburg“ im Bereich der ehemaligen Nicolai-Wolldeckenfabrik am hohen Ufer in der Bernburger Vorstadt gestanden haben (vgl. Artikel 2 der Persönlichkeitsreihe in 7/06).
Literatur:
Reccius, Adolf, Chronik der Heimat, Calbe/Saale 1936.
Widukinds Sächsische Geschichten / nach d. Ausg. der Monumenta Germaniae übers. von Reinhold Schottin . Nebst der Schrift über die Herkunft der Schwaben und Abraham Jakobsens Bericht über die Slavenländer, Leipzig 1891.
Gespenstisches aus alten Zeiten
Erschienen im August 2006
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Speckteich bei Calbe |
Unsere seit ca. 4500 Jahren intensiv besiedelte engere Heimat am linken Hochufer der Saale bis hin zur Wartenberg-Hügelkette ist nicht nur reich an archäologischen Bodenfunden, sondern auch an Spukgeschichten, die sich oft um alte Kultplätze ranken.
Südöstlich des Wartenberges existierte, wie Hävecker berichtete, in der ängstlichen Vorstellung der Bevölkerung die „Teufelsküche“, eine Senke an der Schlöte (- zwischen der alten Müllkippe und der Wartenberg-Anhöhe). Teufelsküchen bezeichnen auch in anderen Teilen Deutschlands meist morastige, sumpfige Landschaftsgebiete.
Das heutzutage weitgehend entwässerte, aber immer noch feuchte Areal weist ein kleines Gewässer auf, den „Speck“-Teich. Mit großer Wahrscheinlichkeit geht der Name auf „Spök“, in unserer Region alt-mundartlich „Schpeke“, also auf den hochdeutschen Begriff „Spuk“, zurück. Man kann sich durchaus vorstellen, dass in diesem „Teufels“-Gelände in der grauen Vorzeit unheimliche kultische Handlungen vollzogen wurden, die an bösen Spuk erinnerten.
Auch die Bezeichnung des nur ca. zwei Kilometer weiter östlich liegenden Hügels als „Hänschen-Hoch“ (Hänsgenhoch) bedeutet so viel wie: Kobolds-Höhe. Hänschen oder Heinzchen, auch Heinzelmänner genannt, waren meist gutartige Wichtel, die den Menschen heimlich bei der Arbeit halfen, die man aber nicht ärgern durfte. Germanisten wie Jacob Grimm und Franz Felix Adalbert Kuhn wiesen nach, dass es sich bei den kleinen rot gekleideten Koboldsgestalten nach dem Volksglauben um die Seelen verstorbener Kinder handelte, vielleicht sogar als kollektive Erinnerung an Kindesopfer in vorgeschichtlicher Zeit. Übrigens: Beim Versteckspiel rufen heute noch die Kinder, wenn der bzw. die sich Versteckende unauffindbar bleibt: „Hänschen, piepe mal!“
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Petermännchen in Schwerin |
Besonders in Krisenzeiten nahm der Glaube an die Existenz unheimlicher Wesen zu. Während des Dreißigjährigen Krieges und der Pest-Epidemien tauchten immer wieder Gerüchte von Gespenstern und „Wiedergängern“ auf.
Zur Zeit der Pest von 1623/24 in Calbe zum Beispiel sollen drei Verstorbene auf dem Lorenz-Friedhof erschienen sein. Hävecker schilderte: „Und Anno 1624 ist bei einfallender Pest merkwürdig gewesen, daß im Julio ein Gespenst zweier bekannter Männer, Mittags ongefähr, um 11 bis 12 Uhr aus den Holunderbüschen auf dem Gottesacker herfürgekommen, deren einer einen schwarzen Stock in der Hand gehabt, und einer neben dem andern unterwärts nach dem Brunnen gegangen, der zur linken Hand aber einen breiten Hut aufgehabt hat; die Kleidung und [der] Gang dieser Personen, so viel dieselben, so es gesehen, erkennen mögen, haben angezeiget, daß sie dem Bürgermeister Michael Hartmann und dem Stadt- und Gerichts-Schreiber Christian Eggersdorfen ähnlich gewesen. Diese Personen sind auf dem Prediger-Stuhl, so damals auf dem Gottesacker unter dem freien Himmel, bei einem Mandel-Baum gestanden, gesehen worden, auf welchem auch des Müllers Töchterlein zu erkennen gewesen."
Seit Jahrhunderten gab es in Calbe das Gespenst des „Reitermännkens“. An der Federpfütze, der heutigen Kanalgasse, sei, so erzählt Hävecker, öfter ein Geist gesehen worden - die Gestalt eines Mannes in Reiteruniform, der die Menschen durch sein Erscheinen vor Unheil warnte. Das Sagenmotiv des Reiters, der die Gefahr ankündigt - vor besonders großen Katastrophen sogar ohne Kopf -, tauchte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in vielen Teilen Deutschlands und Europas auf. Die berühmteste dieser Spukgestalten ist wohl der Schlossgeist „Petermännchen“ von Schwerin im Reiterdress des 17. Jahrhunderts, der heutzutage nicht nur für die Werbung aktiv ist, sondern auch Touristen durch die Stadt führt. Sogar in Theodor Storms „Schimmelreiter“-Klassiker floss das Motiv des Gespensterreiters ein, und in der Gegenwart hat Hollywood in "Sleepy Hollow" auf die Sage zurückgegriffen, allerdings mit negativen Vorzeichen.
Demnächst wird das Reitermännchen wieder in Calbe auftauchen, diesmal aber nicht, um Gefahr, sondern Frohsinn anzukündigen und heimatgeschichtliches Wissen zu vermitteln.
[Nachtrag aus dem Jahr 2008: Heimathistoriker Klaus Herrfurth (Pfarrer i. R.) hat in alten Akten festgestellt, dass der Flurname "Hänsgenhoch" wahrscheinlich auf einen dort in der frühen Neuzeit wohnenden Siedler mit dem Vornamen Hans zurückgeht.]
Himmelswächter an der St.-Stephani-Kirche in Calbe (Teil 1)
Wasserspeier und Chimären in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
Erschienen im September 2006
Jeder, der an unserer St.-Stephani-Kirche vorüber gekommen ist und einen Blick nach oben geworfen hat, wird sich über die seltsamen Figuren, die auf den 14 Strebepfeilern hocken und die man im Volksmund „Wasserspeier“ nennt, gewundert haben.
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Schreckmaske in Goslar |
Diese Figuren hatten nie die Aufgabe, als Regenabflüsse zu dienen. Einige von ihnen thronen dort oben in einem so ungünstigen Neigungswinkel, dass sie ihren praktischen Zweck, Regen-Wasser von der Traufe weg nach außen abzuleiten, nicht erfüllen konnten. Auch fehlen bei den meisten die Maul-Öffnungen. Bei der Figur einer Bestie, deren Kopf inzwischen abgefallen ist, sieht man keinerlei Spuren eines ehemaligen Rohrkanals. Das bedeutet: Man hat am Ende des 15. Jahrhunderts die Figuren aus rein ornamentalen und sakralen Gründen angebracht. In der Fachliteratur nennt man Wasserspeier ohne buchstäbliche Funktion Grotesken oder Chimären. Wir sollten also exakterweise von Chimären, unechten Wasserspeiern oder wie Klaus Herrfurth von Drolerien sprechen, abgeleitet vom französischen „drôle“, was soviel wie „komisch“ und „seltsam“ bedeutet.
Das Erstaunliche an den Chimären der St.-Stephani-Kirche in Calbe ist, dass sie trotz recht rigider „Säuberungsaktionen“ im 16. und 19. Jahrhundert und gravierender Dachumbauten im 17. Jahrhundert nicht entfernt wurden, so wie das an etlichen europäischen Kirchen im Zeitalter der Aufklärung geschah. An einer Ehrfurcht vor spätgotischer Steinmetz-Arbeit kann das wohl nicht so sehr gelegen haben, eher an einer auch in protestantischer Zeit latent vorhandenen Furcht vor dem Einfluss teuflischer Kräfte. Hexenverbrennungen in Calbe noch im 17. Jahrhundert und Geschichten von Gespenstern und unheimlichen Vorgängen, die uns der Magister der Theologie Johann Heinrich Hävecker zu Beginn des 18. Jahrhunderts in ernsthaftem Ton hinterließ, weisen auf die tiefe psychische Verunsicherung der Menschen jener Zeit hin. So wagten sie es wohl ganz einfach nicht, die Chimären, die bislang ihre Stadtkirche und die Gläubigen vor größeren Unglücken bewahrt hatten, zu beseitigen.
Nach Auffassung mancher Kunsthistoriker sollen die mittelalterlichen Wasserspeier und Chimären Wächter über das sinnbildliche „himmlische Jerusalem“, das die Kirchengebäude verkörperten, darstellen.
Die seltsamen Gestalten fungierten als „Unheilabwender“ an der Grenze zwischen Kirchenmauern und zum Himmel gereckten Dächern. Ähnlich späteren Blitzableitern hatten diese wie Stacheln aufgereihten Figuren die sakrale Aufgabe, Schaden von der Kirche und den darin befindlichen Menschen abzuwenden. Da die Wasserspeier und Chimären oft eine gewollte Vielfachsymbolik besaßen und an den meisten Kirchengebäuden so hoch angebracht waren, dass man nur die Umrisse erkennen konnte, kommt ihnen kaum eine erzieherische Funktion zu.
Schon in der Antike stellten groteske Wasserspeier Spiegelbilder der Schrecken dar, die es von den Häusern fern zu halten galt. Ihre Wiedergeburt erlebten sie seit dem Hochmittelalter, besonders an der Trauflinie der Kirchengebäude. Überwogen dabei um 1200 noch die dämonischen Fabelkreaturen, so wurden um 1500, zu Beginn der Renaissance und der Neuzeit, immer mehr reale Wesen wie Menschen und Tiere dargestellt. Am Ende des 15. Jahrhunderts hatte sich schließlich auch die karikierende Komik in der Figurendarstellung durchgesetzt.
Auch wenn die Karikatur in der figürlichen Gestaltung der Chimären an der St.-Stephani-Kirche eine deutliche Dominanz erlangt hatte, blieb deren Hauptaufgabe als abwehrende Wächter erhalten. Es galt auch um 1500: „Der Himmel bewahre uns in der Kirche, dem heiligen Ort, vor den Schrecken und Verderbtheiten, deren Spiegelbilder außen angebracht sind.“
An der Trauflinie der 1495 fertiggestellten St.-Stephani-Kirche waren 14 „Wächter“ zur Abwehr der bösen und verderblichen Kräfte aufgereiht, je eine Chimäre auf jedem Strebepfeiler. Diese Pfeiler standen zwischen den Giebeln der damals noch vorhandenen seitlichen Zwerchdächer, so dass sich bei Regen der Wasserschwall über die Figuren hinweg ergoss.
Die 14 Chimären an der St.-Stephani-Kirche lassen sich in 3 Gruppen einteilen:
2 Fabelwesen (Hybride), 4 Tiere und 8 Menschen.
Literatur:
Herrfurth, Klaus, Die Wasserspeier an der Stephanikirche, Teil 1-4, in: "Calbenser Blatt" 8-11/1991.
Rebold Benton, Janetta, Holy terrors: Gargoyles on Medieval Buildings. New York 1997.
Rocke, Gotthelf Moritz, Geschichte und Beschreibung der Stadt Calbe an der Saale, o. O. 1874.
Ruppitsch, Claudia, Wasserspeier und Neidköpfe. In: SAGEN.at. Projekt der Sagensammlung im Internet (2000-2006), Innsbruck 2006. URL: http://www.SAGEN.at/doku/wasserspeier/wasserspeier_neidkoepfe.
Schymiczek, Regina E.G., Über deine Mauern Jerusalem, habe ich Wächter bestellt ... Zur Entwicklung der Wasserspeierformen am Kölner Dom (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII: Kunstgeschichte; Bd. 402), Bern / Frankfurt a. M. 2004.
Dieselbe, Höllenbrut und Himmelswächter. Mittelalterliche Wasserspeier an Kirchen und Kathedralen, Regensburg 2006.
Himmelswächter an der St.-Stephani-Kirche in Calbe (Teil 2)
Wasserspeier und Chimären in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
Erschienen im Oktober 2006
Fabelwesen (Hybride)
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Dass nur zwei Hybride an der Stephanskirche in Calbe angebracht wurden, liegt wohl am zu Ende gehenden Mittelalter. Im Renaissancezeitalter wich als Ergebnis einer neuen Sicht auf die Schöpfung die Furcht vor Drachen und anderen Fabelwesen allmählich.
Auf der Nordseite ist ein Sphinx-Drache mit Löwinnenkopf und -beinen, Drachenflügeln und menschlichen Brüsten zu sehen. Im Unterschied zu anderen Sphingen hat diese keinen Frauenkopf; das einzig Menschliche ist der Oberkörper. Ein Mischwesen aus Frau und Bestie könnte auf die Abwehr des „Lasters Wollust“ hinweisen.
Auf der Südseite sieht man einen pegasusähnlichen Drachen mit Papageien-Schnabel, Vogelschwingen und Pfoten. Zwischen seinen Vorderpfoten hält er eine Schlange, die sich seinem Griff zu entwinden versucht. Seit der biblischen Legende vom Sündenfall gilt die Schlange als Symbol der Verführung und Versuchung durch teuflische Kräfte.
Tiere
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Auf der Südseite erblickt man einen Wolf und einen Hund, auf der Nordseite einen Raubtierkopf, in dessen geöffnetem Maul noch das Bein eines Opfers steckt, sowie ein Tier mit Raubtiertatzen, dessen Kopf fehlt.
Die Tiere, die im vorchristlichen Glauben eine göttliche Rolle gespielt hatten, wurden im Mittelalter durch die christliche Kirche abgewertet und oft verteufelt. Hase, Fuchs, Wolf, Hund u. a. erklärte man nun zu „unreinen Tieren“ und schrieb ihnen dämonisch-teuflische Eigenschaften zu.
Der Wolf, der in der „Wächter“-Reihe der Stephanskirche gleich zweimal auftaucht, war ein besonders verhasstes Tier, das oft mit dem Teufel gleichgesetzt wurde. In den Volksmärchen erkennt man noch die besonders schlimme Rolle des „bösen Wolfes“.
Auf der Südseite unserer Stephanskirche setzt er gerade zum Sprung an, auf der Nordseite ist nur der vordere Teil eines sein Opfer verschlingenden Wolfes zu sehen. Vielleicht stellte auch eine weitere Tier-Gestalt auf der Nordseite, deren Kopf irgendwann abgeschlagen oder abgeschossen wurde, einen Wolfsteufel dar. Nach alten mythischen Vorstellungen sollte ein solcher Unheilbringer, wenn er an der Kirche sein Ebenbild erblickte, bestürzt wieder umkehren und so die Kirche und die Gläubigen verschonen.
Der Hund hatte im Mittelalter einen zwiespältigen Ruf: Einerseits wurde er als Begleiter bei der Jagd und als Wächter des Hauses geschätzt, andererseits war er von der mittelalterlichen Kirche auch zum unreinen Tier erklärt worden. Bis heute hat sich diese Negativbedeutung erhalten, wenn man nur an entsprechende Schimpfwörter denkt. Aber auch das Bild des gedemütigten, geprügelten Hundes steht uns sprichwörtlich vor Augen. Im Mittelalter bezeichneten die Deutschen u. a. die Slawen als Hunde. In der mittelalterlichen Kirchen-Symbolik stand der Hund für Neid und Zorn. Wahrscheinlich hatte der südöstliche Hund-Wächter direkt am Chorraum, dem heiligsten Ort in der Kirche, auch diese Doppelfunktion, einerseits als Beschützer des geheiligten Hauses, andererseits als spiegelbildlicher Abwehrer von Neid und Zorn.
Vielen Chimären und Wasserspeiern wohnten solche beabsichtigten Mehrdeutigkeiten inne, die es uns mit ihrer mehrfach verschlüsselten Symbolik heute so schwer machen, ihre Aussagen zu verstehen.
Literatur: (s. Teil 1)
Himmelswächter an der St.-Stephani-Kirche in Calbe (Teil 3)
Wasserspeier und Chimären in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
Erschienen im Dezember 2006
Menschendarstellungen 1
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Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Menschendarstellungen, meist in karikierender Form, den breitesten Raum in der Chimären-Wächter-Reihe an der St.-Stephani-Kirche einnehmen (8 von 14 = 57 Prozent). Vier der Menschengestalten finden wir auf der Nord-, vier auf der Südseite.
Die menschlichen Figuren lassen sich in vier Gruppen einteilen; es begegnen uns zwei Nackte, zwei Gutgekleidete, drei christliche Ordensleute und ein Jude.
Die Nackten
Einer der beiden nackten Männer an der Südseite, der schulterlanges, strähniges Haar trägt, spielt in hockender Stellung mit angezogenen Beinen auf einem Dudelsack.
Das Dudelsackspielen war im Mittelalter besonders in den unteren Volksschichten mit der populären Bordunmusik (Musik mit ausgehaltenem Hintergrundton) sehr beliebt geworden. Knechte, Mägde, Bauern und Handwerksgesellen tanzten in den Schänken
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vergnügt und ausgelassen zum Klang der Sackpfeifen.
Wahrscheinlich sollte diese Figur vor Ausgelassenheit und Vergnügungssucht, die in die Nacktheit (Armut) führt, bewahren.
Ein anderer nackter Mann hockt ebenfalls mit angezogenen, verschränkten Beinen, um die er die Arme geschlungen hat, und in die Ferne gerichtetem Blick in luftiger Höhe auf seinem Pfeiler. Womöglich soll er das Laster der Trägheit und des Stumpfsinns abwehren. Auffällig ist, dass der Nackte (für die damalige Zeit) „hochmodische“ Schnabelschuhe trägt, deren Tragen von der Kirche vehement als Modetorheit verurteilt wurde. Aber an ihm ist noch eine weitere modische Besonderheit zu entdecken: Er trägt einen Mittelscheitel und große Schmachtlocken, ein Hinweis auf die „Verweiblichung“ der Männermode in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.
Moritz Rocke interpretierte diesen Nackten als „heidnischen Wilden“, was jedoch nicht ganz einleuchtend erscheint.
Die Gut-Betuchten
Die zwei gut gekleideten Figuren entsprechen auch dem modischen Geschmack der Zeit. Auffällig sind an ihnen die eng anliegenden „Schecken“ (abgeleitet vom franz. „jaquet“, daraus unser „Jackett“) mit den großen Knöpfen. Die Vorläufer der heutigen „Jacken“ wurden als letzter „Mode-Schrei“ aus Frankreich so hauteng getragen, dass man sie nicht mehr über den Kopf ziehen konnte und deshalb vorn knöpfen musste. Auch die dazu passenden eng anliegenden Männer-Beinlinge (ähnlich den heutigen Strumpfhosen) sind bei den beiden Gestalten angedeutet.
In der auf Freiheit und Individualität orientierten Renaissance näherte sich die Männermode, auch die Haartracht, tatsächlich stark der Frauenmode an. Die Männer trugen die Haare phantasievoll gelockt und betonten ihre Körperformen. Diese „Verweiblichung“ war allen Hütern von „Moral und Sitte“ ein Dorn im Auge.
Der Gutbetuchte auf der Südseite trägt einen modisch üppigen Haarschopf und hält mit den Händen seinen beachtlichen Kugelbauch fest. Es liegt zunächst auf der Hand, dass diese Figur zur Abwehr des Völlerei- und Maßlosigkeits-Lasters gedacht war. Sollte aber der Verweiblichung der Männer entgegen gewirkt werden, dann wäre sogar eine drastische Satire mittels Darstellung einer (Männer-)„Schwangerschaft“ denkbar.
An der Nordwest-Ecke blickt ebenfalls ein modisch gekleideter Herr in die Ferne. Seine Schecke ist reicher verziert als die des Dickbäuchigen auf der Südseite. Auch seine Haarfrisur ist die eines Mode-Gecken jener Zeit, mit Mittelscheitel und großen Locken. Seine Gestik ist allerdings kaum verständlich. Er hält sich die rechte, in der Mitte gespreizte Hand vor den Mund, indem er die Nase einklemmt, die linke greift nach hinten an die Jacke und den Pfeiler, fast an das Gesäß. Das Hinten-Festhalten könnte ein Symbol für „Hinterhältigkeit“ sein. Es ist möglich, dass dieser Dandy das Spiegelbild eines verwerflichen Menschen darstellte, der hinter vorgehaltener Hand falsche Gerüchte über andere verbreitete. Vielleicht aber diente die Skulptur zur Abwehr der Todsünde des Neides oder des Hochmutes und der Eitelkeit. Es gäbe noch einige andere Deutungsmöglichkeiten, die hier nicht auch noch unterbreitet werden sollen. Auf alle Fälle gehört diese Figur an der calbischen Stadtkirche zu denjenigen, die viele Auslegungen zulassen. Möglicherweise sollten sich ja gleich mehrere böse Geister „angesprochen“ fühlen.
Literatur: (wie Teil 1)
Himmelswächter an der St.-Stephani-Kirche in Calbe (Teil 4)
Wasserspeier und Chimären in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
Erschienen im Februar 2007
Menschendarstellungen 2
Die Diener der Kirche
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An der Nordostecke treffen wir auf eine sehr interessante Figur. Sie stellt eine Frau – die einzige in dieser „Galerie“ – dar und trägt, von der Ostseite aus betrachtet, die Kapuze einer Nonne. Schaut man sie aber von der anderen Seite an, trägt sie am Rücken einen Schleier. Diese Haube könnte auf die Beginen hinweisen, die in Blickrichtung der Skulptur im nahe gelegenen Hospital zum „Heiligen Geist“ einige Zeit gewirkt hatten. Die doppelte Sichtweise war sicherlich ein gewollter Effekt, denn die Beginen waren keine „echten“ Ordensfrauen, sondern Bürgerinnen und Adlige, später auch Bäuerinnen, die in demokratischen Organisationsformen in einer von ihnen selbst bestimmten Zeitspanne ein nonnenähnliches Leben führten. Wahrscheinlich sollte mit der Figur auf diese „Zwitterstellung“ der Beginen hingewiesen werden. Auch ein weiteres Detail spricht für die These, dass hier eine Begine dargestellt werden sollte: Unter dem mit Borten verzierten Jäckchen wird der Busenansatz und ein Mieder sichtbar. Bilder aus der Zeit zeigen manche Beginen in einer ganz ähnlichen Kleidung. Diese Frau an der Stadtkirche aber betet nicht wie die beiden Brüder-Figuren. Sie schlingt ihre Arme um Leib und Brust, als ob sie etwas zu verbergen hätte. Ist sie schwanger? Karikaturen jener Zeit unterstellten den nicht in das konventionelle Frauenbild passenden Beginen oft unsittlichen Lebenswandel.
Beginen waren wegen ihrer in jener Zeit für Frauen „untypischen“ Verhaltensweisen und Ansichten trotz ihres sozialen Engagements immer wieder Zielscheiben für Spott und Hass. Im 14. Jahrhundert wurden sie nicht nur aus den Städten verdrängt, sondern der (ja männliche) hohe Klerus erklärte sie außerdem noch der Häresie verdächtig, was zu Verfolgungen und Verbrennungen führte. Die Bewegung wurde verboten. In Sondererlässen gestattete man den Beginen schließlich, unter den Schutz von Orden zu treten, wodurch einige von ihnen zu Franziskanerinnen und Dominikanerinnen wurden. Das aber war das Ende ihrer demokratischen Freiheiten.
Spielte die oben erwähnte Doppelsichtigkeit etwa auch auf die Bulle des Papstes Nikolaus V. von 1453 an, welche die Reste der noch bestehenden Beginen-Konvente in die etablierte Kirche aufnahm? Deshalb die Nonne, die eine Begine ist bzw. umgekehrt?
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Links Begine als Chimäre, rechts in einem Holzschnitt um 1500 |
Dieses Bildnis an der Stephanskirche Calbe als Schaden abweisende Figur könnte zeigen, wie sehr die Beginen als Frauen, die aus ihrer festgelegten sozialen Rolle ausbrechen wollten, verhasst waren. Die Wächter-Aufgabe der Skulptur lautete dann wohl: „Der Himmel beschütze uns vor solchen entarteten und heuchlerischen Weibern!“
Diagonal gegenüber der Nonne/Begine treffen wir an der Südwestecke auf eine stark beschädigte Figur ohne Kopf, die betet und an deren Schultern eine Gagel (Kapuze) sichtbar wird. Nach M. Rocke stellt sie einen Mönch dar.
Auf der von Dämonen am meisten bedrohten Nordseite sehen wir in der Mitte einen betenden Laienbruder, erkenntlich an Habit, Gagel und Bart. Laienbrüder (Konversen) wurden im Volksmund auch die „Bärtigen“ genannt; Mönche (Kleriker) waren glatt rasiert. Wahrscheinlich wurde hier ein Bruder der in Calbe durch Termineien ansässigen Bettelorden dargestellt. Nicht weit von der Figur entfernt lag am Alten Markt das größte Hospital, das die Dominikaner hier betrieben. Hospitäler waren damals Herbergen und Krankenhäuser für die Scharen von Pilgern, Bettlern und Kranken.
Die Laienbruder-Skulptur hatte einen besonderen Schutz auszuüben. Mit der im Mittelalter bekannten Geste des „Bartweisens“, der nach vorn gereckten Bartspitze, sollte das Böse abgewehrt werden. Am Kölner Dom befinden sich gleich zwei solcher „Bartweiser“.
Es ist in der Kirchenarchitektur-Geschichte recht selten, dass Vertreter der Kirche bzw. fromme Frauen in eine Reihe mit Drachen, Bestien, Modenarren und anderen Karikaturen gestellt wurden. Das aber lässt sich nur mit der Entstehungszeit der spätgotischen Hallenkirche erklären, bei deren Ausgestaltung sich mit der neuen Denkweise der Renaissance und des Humanismus bereits die lutherische Reformation ankündigte.
Zwar unterstand die St.-Stephani-Kirche immer noch dem Patronat des nahe gelegenen Stiftes „Gottes Gnade“, aber dessen Zenit war lange überschritten. Moralische Zerfallserscheinungen und Nachwuchssorgen waren Probleme nicht nur für die Prämonstratenser geworden. Bürger von Calbe wollten sich in stadtinterne Angelegenheiten vom Propst nicht mehr hinein regieren lassen. Sogar Bauern aus Schwarz pochten auf ihre Rechte und lagen mit der Stiftsleitung in „Fehde und Zwytracht“. Vielleicht drückten die wenigen noch in der einst stolzen und nun verfallenden Stiftsanlage verbliebenen Brüder auch ein Auge zu, weil ja offensichtlich andere, zu den Prämonstratensern kontrovers stehende Ordens- und Halbordensleute gemeint waren.
Literatur: (wie Teil 1)
Himmelswächter an der St.-Stephani-Kirche in Calbe (Teil 5)
Wasserspeier und Chimären in der mittelalterlichen Vorstellungswelt
Erschienen im April 2007
Fortsetzung Menschendarstellungen (2)
Auf der von Dämonen am meisten bedrohten Nordseite sehen wir in der Mitte einen betenden Laienbruder, erkenntlich an Habit, Gagel und Bart. Wahrscheinlich wurde hier ein Bruder der in Calbe durch Termineien ansässigen Bettelorden dargestellt. Die Laienbruder-Skulptur hatte einen besonderen Schutz auszuüben. Mit der im Mittelalter bekannten Geste des „Bartweisens“, der nach vorn gereckten Bartspitze, sollte das Böse abgewehrt werden. Am Kölner Dom befinden sich gleich zwei solcher „Bartweiser“.
Es ist in der Kirchenarchitektur-Geschichte recht selten, dass Vertreter der Kirche bzw. fromme Frauen in eine Reihe mit Drachen, Bestien und Karikaturen gestellt wurden. Das aber lässt sich nur mit der Entstehungszeit der spätgotischen Hallenkirche am Ende des 15. Jahrhunderts erklären, bei deren Ausgestaltung sich mit der neuen Denkweise der Renaissance und des Humanismus bereits die lutherische Reformation ankündigte. Zwar unterstand die St.-Stephani-Kirche immer noch dem Patronat des nahe gelegenen Stiftes „Gottes Gnade“, aber dessen Zenit war lange überschritten. Moralische Zerfallserscheinungen und Nachwuchssorgen waren Probleme nicht nur für die Prämonstratenser geworden.
Menschendarstellungen (3)
Der Jude und die „Judensau“
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Gleich neben der Nonne/Begine findet man auf der Nordseite eine abstoßende Figurengruppe: Ein Jude küsst einer Sau die hinteren Körperöffnungen.
Das beinhaltet eine mehrfache Unverschämtheit, denn der Verzehr von Schweinefleisch ist Juden laut Tora verboten, und Intimitäten zwischen Mensch und Tier gelten in der Bibel als besonders schwere Perversion und todeswürdiges Vergehen. Außer in Calbe gibt es noch in 27 anderen mitteleuropäischen Städten solche entwürdigenden Darstellungen, meist an Kirchen. Judentum und Juden sollten als verderbt, schmutzig und pervers gebrandmarkt und den jüdischen Einwohnern das Selbstwertgefühl genommen werden.
Die Aufgabe dieser Doppel-Wächterfigur war wohl, die Gläubigen vor Perversionen zu schützen.
Wie war es zu einer solchen rabiaten Entgleisung gekommen?
Noch im 14. Jahrhundert, besonders während der Zeit der großen wirtschaftlichen Prosperität in Calbe, waren Juden geachtete Bürger in Calbe. Wahrscheinlich unter dem Einfluss einschneidender klimatischer Veränderungen am Ausgang des Mittelalters und verheerender Pest-Pandemien änderte sich die Einstellung der christlichen Bevölkerung zu den Juden, die als Minderheit die Sündenbock-Funktion übernehmen mussten. Pogrome mehrten sich.
Als es Anfang der 1490-er Jahre in Magdeburg zu Übergriffen mit tödlichem Ausgang gegen Juden kam, die von Franziskanern provoziert worden waren, und die jüdischen Bürger sich hilfesuchend an ihren Schutzherren, den Erzbischof Ernst II. von Sachsen-Wettin (Reg. 1476-1513), wandten, ordnete dieser stattdessen die Vertreibung der etwa 200 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde aus dem Erzbistum Magdeburg an, die 1493 vor sich ging.
Die abstoßend wirkende Figur an der St.-Stephani-Kirche war Teil der im 15. und 16. Jahrhundert forciert betriebenen antijudaistischen christlichen Propaganda.
Literatur: (wie Teil 1)
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
4. Hl. Norbert von Xanten, Hl. Emelrich (Emil) und Hl. Evermod
Erschienen im Oktober 2006
Gleich drei Heilige der katholischen Kirche wirkten vor 9 Jahrhunderten dort, wo sich heute der Ortsteil Gottesgnaden befindet.
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Norbert von Xanten |
Die Gründung des Stiftsklosters „Gottes Gnade“ verdanken wir einem jungen, ehrgeizigen Politiker. Der niederrheinische Adlige Norbert von Xanten (um 1080 – 1134) wandte sich unerwartet, nachdem er eine steile Karriere als Staatsmann und Berater des Kaisers Heinrich V. begonnen hatte, dem innerkirchlichen Reformprozess zu. 1126 wurde Norbert aus Frankreich auf den Erzbischofsstuhl in der Ostexpansions-Zentrale Magdeburg berufen. Sein Ziel war es nun, den Einfluss seines Prämonstratenser-Ordens immer weiter nach Osten zu tragen. Ausgangspunkt sollte ein Ort in einer verkehrsgünstigen Lage sein. 1131 legten Norbert und der Vermögensspender Otto von Röblingen den Grundstein für das Stiftskloster „Gottes Gnade“. Das Stift wurde schon nach kurzer Zeit von geistlichen Herren sowie von Laienbrüdern und streng abgeschiedenen Laienschwestern (Nonnen) bezogen. Durch die Delegierung einiger Brüder nach Osten und die Gründung neuer s. g. Tochterklöster hatte „Gottes Gnade“ bei Calbe bald eine weit verzweigte, große „Familie“ (vgl. Serie über „Gottes Gnade“ in „Calbenser Blatt“ 1-3/06).
Der erste Probst des mit vielen Privilegien ausgestatteten Stiftsklosters war der nordfranzösische Adlige und enge Vertraute Norberts Emelrich (Emil) (um 1100 – 1163). Allerdings blieb Emelrich hier nicht lange Propst. Papst Innozenz II. beorderte den tatkräftigen Prämonstratenser 1133 nach Palästina, wo er in der Nähe des heutigen Tel Aviv ein bedeutendes Kloster gründete und als angesehener Erzbischof von Lydda starb.
Sein Nachfolger als Gottesgnadener Propst war ebenfalls ein enger Vertrauter und Schüler Norberts, Evermod von Cambrai (um 1100 – 1178), der sich aber wegen seines extrem strengen Regimes bei Stiftsherren und Brüdern unbeliebt machte und deshalb nach Magdeburg „weggelobt“ wurde. Er wurde 1154 Bischof des neu gegründeten Bistums Ratzeburg (Holstein) und ging als „Apostel der Wenden“ in die Geschichte ein. Später sprachen die Päpste Norbert, Emelrich und Evermod heilig.
„Runde“ Jahrestage und Einschnitte in der Geschichte Calbes für 2007 (Auswahl)
Erschienen im Dezember 2006
1207 Weihe der zum Stift „Gottes Gnade“ gehörenden Hospitalkirche „St. Maria und St. Johannes (Evangelist)“
1382 Erzbischof Ludwig von Meißen verunglückt tödlich bei einem Faschings-Tanzvergnügen im Rathaus, als Feuer ausbricht.
1432 Calbe gerät in den Krieg des Erzbischofs Günther II. von Schwalenberg mit der Stadt Magdeburg und wird dabei teilweise zerstört. Die Magdeburger schleppen die Strafbeute, weil Calbe den Erzbischof gezwungenermaßen unterstützt hatte, auf 480 Wagen fort.
1607 Fünfte (nachweisbare) Pestwelle in Calbe, durch die eine „große Anzahl der Menschen hingerafft wurde." Sie ist so gefährlich, dass die Stadtväter den Handel von und nach draußen verbieten und die Torwachen verstärken.
1732 19 französische und 14 pfälzische Hugenotten-Familien in Calbe
1807 Magister phil. Johann Friedrich August Kinderling gestorben (geb. 1743); Kinderling hatte sich um die Erforschung der deutschen Sprache verdient gemacht.
1832 Karl Capelle aus Magdeburg eröffnet eine Tuch-Fabrik mit einer Dampfmaschine von 24 PS in der Breite Nr. 35. Sein Unternehmen expandiert und existiert bis ins 20. Jahrhundert.
1832 Erste Cholera-Epidemie in Calbe
1857 Marie Nathusius (geb. Scheele) stirbt im Alter von 40 Jahren an einer Rippenfellentzündung, die sie sich beim vorweihnachtlichen Sammeln von mildtätigen Spenden für ihre Zöglinge zugezogen hat.
1882 Eröffnung der Eisenbahn-Verbindung Calbe/Ost (Gritzehne) - Calbe/West (Bahnhof Calbe)
1882 Einweihung einer neuen Straße in Calbe, der „Schulstraße“, und der dort neu erbauten Schule für die Bernburger Vorstadt (ab 1905/06 nach Aufstockung und Erweiterungsbau: Realschule, nach 1945: Goethe-Schule)
1907 Erster Fußball-Verein „Germania“ in Calbe
1932 Die Wirtschaftskrise befindet sich auf dem Höhepunkt und schadet dem calbischen Agrarhandel stark. Die Calbenser wählen bei den Reichstags- und Landtagswahlen mit überdurchschnittlich hohem Anteil die NSDAP.
1957 Erstes Heimatfest nach dem Zweiten Weltkrieg in Calbe
Weihnachten vor 150 Jahren
Erschienen im Dezember 2006
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In der s. g. Biedermeierzeit, als sich ein großer Teil des deutschen Bürgertums wegen der politischen Bedrückungen in die „Gemüthlichkeit“ und Geborgenheit des Privaten zurückzog, erhielt das wohl wichtigste Fest der Familie, Weihnachten, seine gegenwärtige Ausprägung. Jahrhundertealte Traditionen waren seit der lutherischen Reformation neu belebt worden, und die kirchliche Feier der Geburt Christi bekam besonders durch die „neue Empfindsamkeit“ der pietistischen Bewegung eine tief familiär-vertrauliche Note. Alte, aus dem Mittelalter bekannte Symbole wie der Paradiesbaum des Weihnachtsspiels oder auch Tannenzweige zur heidnischen Geistervertreibung wurden zum geschmückten Christbaum, und in protestantischen Gegenden vereinigten und verwandelten sich der Heilige Nicolaus von Myra und sein strafender Knecht Ruprecht zum Weihnachtsmann, der die Attribute des Knechtes übernahm: die braune Mönchskutte mit Kapuze, den Geschenkesack und die Rute. (Erst nach 1950 setzte sich auch bei unserem Weihnachtsmann die knallrote Kleidung des nordamerikanischen Santa Clause durch.) In einer biedermeierlichen Wohnstube stand der Christbaum in einem einfachen, meist hölzernen Gestell auf dem Fußboden. Die Zweige waren mit vergoldeten Nüssen, Brezeln und Lebkuchen sowie mit bunten Kugeln und kleinen Geschenken geschmückt. Die Kerzen wurden zu dieser Zeit noch mit Draht und Wachs am Baum befestigt; eine äußerst gefährliche Angelegenheit, zumal die Löschmöglichkeiten in der Mitte des 19. Jahrhunderts recht beschränkt waren. Wenn die Familie von der Christmette am Heiligen Abend aus der Kirche kam, fand die Bescherung unter dem Weihnachtsbaum mit Hilfe des Weihnachtsmannes und manchmal auch des Christkindls statt. (Dass das Christkind nicht von einem Knaben, sondern von einem jungen Mädchen dargestellt wurde, geht möglicherweise auf den keltisch-germanischen Ursprung seitens der jungfräulichen Göttin Jul-Bet zurück.) Vor und nach der Bescherung wurden Weihnachtslieder aus der Reformations- und Pietismuszeit gesungen.
So hatte es vielleicht auch Marie, die Tochter des Superintendenten Friedrich August Scheele, in der Schlossstraße Nr. 114 in Calbe als Kind und Jugendliche erlebt. Als Frau des gleichgesinnten jungen Publizisten und Gutsbesitzers Philipp Engelhard Nathusius begann Marie zusammen mit ihrem Mann ihre Vorstellung von der tätigen Nächstenliebe zu verwirklichen.
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Die Arbeitslosigkeit, der durch die beginnende Industrialisierung zunehmende Ruin der Handwerker und das Arbeiterelend waren in Deutschland besonders nach dem schlesischen Weberaufstand 1844 zu einem nationalen Problem geworden. Die Proletarierfamilien mussten oft in einem unbeschreiblichen Elend bei unmenschlichen Arbeitsbedingungen leben. Es kam nicht selten vor, dass im Branntwein versunkene, apathische Eltern ihre Kinder auf die Straße setzten und sich selbst überließen. Philipp Nathusius berichtete von aufgegriffenen verwilderten und verlausten Achtjährigen, die nicht nur bandenmäßig stahlen, sondern auch rauchten und die Schnapsflasche leerten. Auf ihrem Gut in Althaldensleben, später in Neinstedt richteten Marie und Philipp Nathusius ein Erziehungsheim für verwahrloste Kinder und Waisen ein und gaben den unglücklichen Kindern einen neuen familiären Rückhalt. Adlige und bürgerliche Frauen eines Unterstützungs-Vereins schenkten und nähten für die Zöglinge Kleidung. Spenden trafen von nah und fern ein. Besonders zu Weihnachten war für die Kinder der Halt durch die neue Heim-Familie von großer Bedeutung. Deshalb sammelten Marie und Philipp in der Vorweihnachtszeit eifrig Gaben in den umliegenden Orten ein, um kleine Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen zu können. Im Dezember 1857 war Marie Nathusius wieder, diesmal bei stürmischem und nasskaltem Wetter über Land gegangen, um die Weihnachtsspenden zu sammeln. Dabei hatte sie sich eine Rippenfellentzündung zugezogen, an der sie, die Sanfte, Fröhliche und Vielgeliebte zwei Tage vor dem Heiligen Abend im Alter von 40 Jahren starb.
2007
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
(Außer der Reihe:) Marie (Karoline) Nathusius geb. Scheele
Erschienen im März 2007
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Eigentlich wäre in der chronologischen Abfolge der Serie über Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes der herausragende Erzbischof Wichmann Graf von Seeburg an der Reihe. Aus Anlass eines wichtigen Jubiläums ziehen wir jedoch eine wunderbare Frau vor, deren Zeit erst 7 Jahrhunderte nach Wichmann lag.
Vor 150 Jahren starb eine bedeutende „Tochter“ unserer Stadt, die heute noch in aller Welt verehrt wird. In der Schlossstraße werden wir auf diese sozial engagierte Schriftstellerin des deutschen Vormärz und Biedermeiers aufmerksam gemacht. Im Haus Nr. 114, wo eine Gedenkplakette angebracht ist, wohnte Marie Scheele als Kind und junges Mädchen. Sie gehörte damals zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen, deren Werke aber heute fast vergessen sind. Vergessen ist jedoch nicht ihr tatkräftiges Engagement in der seit 1830 in den Vordergrund tretenden "sozialen Frage". Als verheiratete Marie Nathusius wurde sie später als Mitbegründerin christlicher Sozialhilfe-Anstalten weit über die lokalen Grenzen hinaus bekannt.
Ihr Vater Friedrich August Scheele (1776 - 1852), dessen Bildnis in der St.-Stephani-Kirche hängt, zog 1819 mit der Familie aus Magdeburg, wo Marie am 10. 3. 1817 geboren wurde, nach Calbe. Hierher hatte der neupietistische Pfarrer eine Berufung als Oberpfarrer und Superintendent an die Stephani-Kirche erhalten.
In Calbe verlebte das aufgeweckte und sensible Mädchen nach eigener Aussage eine glückliche Kindheit und Jugend. Marie, die damals in der Mädchen-Schule am Kirchplatz nur die äußerst bescheidenen Bildungsmöglichkeiten eines Bürger-Mädchens hatte, lernte mit ihren Brüdern, welche eine höhere Schule besuchen konnten, mit, und eignete sich so auch ein wenig von dem Wissen der akademisch Gebildeten der damaligen Zeit an. Als Haushaltshilfe bei ihrem Bruder, der Lehrer unter anderem in Eickendorf war, entwickelte sie pädagogische Fähigkeiten. Mit 23 Jahren verlobte sich Marie Scheele mit dem jungen Neuhaldenslebener Kaufmann, Gutsbesitzer und Romantik-Dichter Philipp Engelhard Nathusius (1815-1872), der gerade von einer zweijährigen Bildungsreise durch Europa zurückgekehrt war. 1841 heiratete das Paar. Beide vereinte nicht nur die Liebe zur Dichtkunst, sondern auch in erster Linie das karitative Engagement. Zunächst gründeten sie in Althaldensleben einen Kindergarten für die Kleinkinder von Arbeiterfrauen, 1850 ein Rettungshaus für verwahrloste Kinder und Waisen in ihrem neu erworbenen Gut Neinstedt und legten so den Grundstock für eine später weltberühmte soziale Einrichtung für Hilfsbedürftige im Sinne der Inneren Mission. Noch heute gehören die Neinstedter Anstalten zu den größten diakonischen Einrichtungen in Deutschland. Das Ehepaar näherte sich von der praktischen und christlich-pietistischen Seite einem Problem, das damals die Menschen in den Ländern der beginnenden Industrialisierung stark beschäftigte, der so genannten sozialen Frage, sprich: dem Arbeiterelend, unter dem besonders die Kinder der Unterschichten litten (vgl. „Calbenser Blatt“ 12/2006).
Mit der Schriftstellerei begann Marie unter dem Einfluss des großen Dichterfreundes Hoffmann von Fallersleben, der oft bei dem Ehepaar zu Gast war und der auch den Text für das „Lied der Deutschen“ sowie viele andere volkstümliche und patriotische Gedichte schrieb.
Marie, die selbst Mutter von sieben Kindern war, hatte eine glückliche Hand, mit ihren Zöglingen umzugehen. Begeistert sagte man von ihr: "Marie kann reiten, einen Kahn lenken, Schlittschuh laufen, mehrere Instrumente spielen, komponieren, singen, zeichnen und dichten." Marie Nathusius starb viel zu früh am 22.12.1857 - im Alter von 40 Jahren - in Neinstedt. Sie war bei den Vorbereitungen der Weihnachtsfeier für ihre Pfleglinge und den damit verbundenen Über-Land-Gängen bei Dezemberwetter an einer schweren Rippenfellentzündung erkrankt, die zu ihrem Tode führte.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
5. Wichmann von Seeburg
Erschienen im April 2007
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1152 bestieg ein für Calbe wichtiger Mann den Erzbischofstuhl in Magdeburg. Wichmann Graf von Seeburg (1115 od. 1116 - 1192) war ein treuer Vasall Kaiser Friedrichs I. Barbarossa und eifriger Anhänger der Zentralgewalt. Nach einer beachtlichen Karriere übertrug ihm der Kaiser gegen den heftigen Widerstand des Papstes das Erzbistum Magdeburg. Als Initiator des 1188 zusammengestellten "Magdeburger Stadtrechts" schrieb Wichmann europäische Geschichte. Dieser Erzbischof war ein bedeutender Förderer der Städte und ein zu Kompromissen bereiter Politiker. So vermittelte er immer wieder - auch erfolgreich - im päpstlich-kaiserlichen Streit und im Staufer-Welfen-Konflikt. Erzbischof Wichmann hat für die Stärkung Calbes viel getan. Am bedeutendsten ist eine Urkunde, die zwischen 1160 und 1168 entstanden sein muss. Darin sind zwei Tatsachen wichtig: Erstens bezeichnete Wichmann u. a. die Calber Einwohner als seine Marktbürger (forenses), und zweitens stiftete er zu seinem Seelenheil jährlich ein Pfund Silber aus seinen Höfen am Neuen Markt. Das ist unser heutiger Marktplatz; der Alte Markt, wie er noch lange hieß, lag 100 Meter weiter nördlich. Wichmann selbst hatte diesen neuen, größeren Handelsplatz anlegen lassen, um unserer Stadt bessere wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten zu verschaffen. In einer Urkunde von 1168 taucht dann auch folgerichtig ein eigener Stadtrichter (Schultheiß) namens Hugold von Calbe, ein Vasall Wichmanns, auf. Das bedeutete, dass Calbe als neue Marktstadt aus dem öffentlichen Landrecht herausgenommen worden war und nicht mehr wie ein Dorf oder Marktflecken behandelt wurde. In den 1160er Jahren war also die juristische Anerkennung Calbes als Stadt erfolgt. Der Weg zu einem städtischen Aufschwung in Calbe war frei. Erzbischof Wichmann starb in Könnern und wurde im Dom zu Magdeburg beigesetzt.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
6. Albrecht der Bär, Heinrich der Löwe und Kaiser Otto IV.
Erschienen im Mai 2007
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Albrecht der Bär |
Auch ein anderer Anhänger der Staufer-Kaiser hatte mit Calbe bzw. mit dem Stiftskloster zu tun, Markgraf Albrecht („der Bär“) von Brandenburg (um 1100 – 1170). Der Askanier stammte aus dem Grafenhause von Ballenstedt. Er erschien 1135, ein Jahr und nach der Weihe des Stiftes und nachdem er zum Markgrafen der Nordmark erhoben worden war, zusammen mit anderen bedeutenden „Ostlandexperten“ (Konrad von Wettin und Heinrich von Groitzsch, s. nächste Folge) als Zeuge bei der Bestätigung der Privilegien von „Gottes Gnade“ durch den neuen Magdeburger Erzbischof. Um Albrecht gegenüber seinem Hauptfeind, Heinrich dem Löwen, ebenbürtig zu kennzeichnen, nannten ihn schon die Zeitgenossen den „Bären“. Er liegt im Schloss Ballenstedt begraben.
Sowohl Wichmann als auch Albrecht als Anhänger der Staufer wurden von dem mächtigen Anführer der Welfen, dem Bayern- und Sachsenherzog Heinrich dem Löwen (um 1129 bis 1195) bekämpft.
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Heinrich der Löwe |
Da die Handelsstadt Calbe ein „Kind“ des einflussreichen Stauferpolitikers Wichmann war, musste sie in den staufisch-welfischen Kriegen unter den Vergeltungsschlägen der Welfen besonders leiden. U.a. unternahm der Welfen-Herzog einen verheerenden Verwüstungszug, dem das Gebiet von der Bode bis nach Frohse zum Opfer fiel. Am 6. November 1179 plünderte und verbrannte Heinrich der Löwe Calbe. 1199 oder 1200 wurde die Stadt erneut, diesmal durch den ältesten Sohn des Löwen, Pfalzgraf Heinrich, gebrandschatzt. 1203 oder 1204 und 1217 verbrannte der welfische Kaiser Otto IV. von Braunschweig (um 1175 bis 1218), auch ein Sohn Heinrichs des Löwen, Teile der Stadt und verwüstete die Gegend ringsumher. Über die Verwüstung des Magdeburger Erzbistums, besonders Calbes, schrieb 1218 die Magdeburger Schöppenchronik beim Tode Kaiser Ottos IV., ein so großes Buch gebe es gar nicht, um all das Ungemach und den Jammer niederzuschreiben, den der Krieg hier hervorgerufen habe.
Todessturz eines Politikers in Calbe (Teil 1)
Erschienen im Mai 2007
Erneut müssen wir die chronologische Abfolge unserer Persönlichkeits-Reihe durchbrechen. Vor 625 Jahren starb in Calbe ein europaweit bekannter Politiker eines unnatürlichen Todes.
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Am Rosenmontag (17.2.) des Jahres 1382 kam eine bedeutende politische Persönlichkeit im Rathaus von Calbe zu Tode. Erzbischof Ludwig von Mainz und Magdeburg, Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen, wurde bei einem Fastnachts-Tanzvergnügen im Calber Rathaus tödlich verletzt. Der Fall fand europaweit große Beachtung und rückte die Nebenresidenz- und Handelsstadt ins Blickfeld der „großen Welt“.
Wer war dieser Mann, dessen ungewöhnlicher Tod so große Aufmerksamkeit erregte? Der am 26. Februar 1341 (oder 1340) geborene Ludwig stammte aus der angesehenen Familie der Meißener Markgrafen. Nach dem Tod des Vaters setzten die vier Brüder, die nun die Markgrafschaft gemeinsam regierten, auf Kaiser Karl IV., den sie in seiner Reichs-Politik unterstützten. Ludwig, der zweitjüngste der Markgrafen-Brüder, bestieg schon mit 16 Jahren seinen ersten Bischofsstuhl in Halberstadt, 9 Jahre später in Bamberg, wo er politisches Geschick, aber auch einen starken Hang zur prachtvollen Selbstinszenierung entwickelte. 1373 war ein Verwandter Kaiser Karls IV. – wie es hieß: durch einen Giftmord – früh gestorben, der die wichtigste Kurfürstenwürde innehatte, die des Erzbischofs von Mainz. Karl IV. brauchte nun dringend einen anderen loyalen Mann auf dem Mainzer Stuhl, weil er mit dessen Hilfe die Wahl seines Sohnes Wenzel zum deutschen König durchsetzen wollte. Er schickte deshalb Ludwig nach Avignon, wo die Päpste seit 1309 unter anderem aus Furcht vor der in Rom herrschenden Gewalt im Exil lebten, und wies den ihm ergebenen Gregor XI. an, Ludwig zum Erzbischof von Mainz zu ernennen.
In der Zwischenzeit hatte aber ein anderer Anwärter die Initiative ergriffen. Der junge Adolph Graf von Nassau (um 1350 – 1390), der von einer Gruppe Kirchenfürsten des Mainzer Domkapitels ebenfalls zum Erzbischof gewählt worden war und dem man nachsagte, in den Giftmord verwickelt gewesen zu sein, besetzte mit einer starken Militärmacht der Fürstenopposition die Stiftsfestungen des Erzbistums in Thüringen und im Eichsfeld und verwüstete die Mark Meißen. Nun gab es außer den Doppelregierungen und Kirchenspaltungen, Schismen genannt, noch eine weitere verderbliche Gewaltenteilung, das Mainzer Schisma: Auf der einen Seite Ludwig ohne Bistumsbesitz und von einem Exil-Papst ernannt, aber vom Kaiser im Bündnis mit mehreren Städten gestützt, auf der anderen Seite Adolph, getragen von einer städtefeindlichen Fürstenopposition, aber im realen Besitz großer Teile des Erzbistums. Nachdem es den markgräflichen Brüdern mit Verbündeten gelungen war, Adolph in Erfurt einzuschließen, erschien Karl IV. selbst mit einem starken kaiserlichen Heer und zwang jenen zu einem Stillhalteabkommen, während dessen Ludwig als offizieller Erzbischof von Mainz und vorsitzender Kurfürst 1376 die Wahl von Karls Sohn Wenzel zum deutschen König arrangieren und vornehmen durfte.
Nach dem Tod Gregors XI. und Karls IV. im Jahr 1378 schlug die Gegenseite jedoch zu.
Der neue Papst enthob den „Königsmacher“ Ludwig seines erzbischöflichen Amtes und wollte ihn auf Nebenposten abschieben. Da aber weigerte sich Ludwig schlichtweg. Schließlich war er nicht irgendwer.
(Teil 2 folgt)
Literatur:
Bautz, Friedrich Wilhelm: Adolph I., in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1.
Hävecker, Johann Heinrich: Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Acken und Wantzleben..., Halberstadt 1720.
Hertel, Gustav: Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.
Liliencron, Rochus Freiherr von: Adolf I., in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1.
Reccius, Adolf: Chronik der Heimat, Calbe/Saale 1936.
Thiele, Andreas: Erzählende genealogische Stammtafeln 1, T. 2 zur europäischen Geschichte, Frankfurt/M.1997.
Will, o. Vn.: Ludwig, Erzbischof von Mainz und Magdeburg, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 19.
Todessturz eines Politikers in Calbe (Teil 2)
Erschienen im Juni 2007
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Als sich Ludwig strikt weigerte, sein Erzbischofs-Amt abzugeben, gelang es König Wenzel gerade noch, einen Kompromiss herbeizuführen: Offizieller Erzbischof von Mainz wurde Adolph von Nassau, Ludwig von Meißen behielt lediglich diesen Titel, bekam aber außerdem zum Ausgleich für den realen Machtverlust den ebenfalls sehr begehrten Erzbischofsstuhl von Magdeburg. Damit war Ludwig quasi Adolphs Stellvertreter. Wäre Adolph von Nassau etwas zugestoßen, hätte Ludwig als Erzbischof von Mainz und Magdeburg eine enorme Machtfülle in den Händen gehalten, was übrigens anderthalb Jahrhunderte später dem durch die großartige Ausstellung in Halle (2006) wieder allgemein bekannt gewordenen Albrecht IV. gelungen war.
Der neue Magdeburger Erzbischof Ludwig stieß in der Stadt Magdeburg, in die er in einem prachtvollen Spektakel mit tausend Pferden eingezogen war, auf heftigen Widerstand der sich emanzipierenden Bürger. Deshalb hielt er sich lieber in der Nebenresidenz Calbe auf und feierte dort nach einer halbjährigen Amtszeit ein Fastnachtsfest, zu dem er 300 Gäste - Fürsten und Herren mit ihren Damen – eingeladen hatte. Der Erzbischof orderte für diesen Ball den Tanzsaal im Obergeschoss des 1376 neu erbauten Rathauses.
Am Rosenmontag 1382 erschallte hier gegen 21 Uhr plötzlich, während Ludwig mit seiner Dame den Reigen vergnügter Tänzerinnen und Tänzer anführte, der Schreckensruf: „Feuer, Feuer!“ Die vielen Festgäste hasteten in wilder Panik zur Treppe, der Erzbischof mit seiner Dame vornweg. Auf der Treppe stolperte er (oder wurde gestoßen), und die Menschen stürzten über ihn. Er wurde so schwer verletzt, dass er am nächsten Tag verstarb. Um das Ressentiment der Magdeburger nicht erneut zu provozieren, wurde die Leiche Ludwigs von seinen Brüdern, die auch beim Fest zugegen gewesen waren, in aller Heimlichkeit in Magdeburg an einem geheim gehaltenen Ort, vielleicht im Dom oder im Erzbischofs-Palast, beigesetzt.
Nun war durch das Unglück das Problem des Mainzer Schismas gelöst. In Magdeburg, Thüringen und anderswo tauchten Berichte über den „Fastnachtstanz von Calbe“ auf, die sich oft erheblich in der Darstellung der Ursachen und Folgen der Massenpanik unterschieden. Aber in einem Punkt waren sich alle „Berichterstatter“ einig: Der Feuer-Ruf war ein blinder Alarm gewesen. Einige wollten sogar erkannt haben, dass der Teufel selbst gerufen und so den Tod Ludwigs verursacht hätte. Das calbische Protokoll dieses europaweit beachteten Vorfalls ist verschwunden, wie schon J. H. Hävecker befremdet feststellte.
In jener Zeit tauchte dann auch noch eine Legende auf, die sich wohl auf Erzbischof Ludwig, lateinisch Ludovicus, und seinen prachtvollen, sinnenfrohen Lebensstil bezog. Angeblich hätte eine Geisterstimme drohend gewarnt: „Fac finem ludo, lusisti nunc satis Udo!“ Übersetzt heißt das etwa: „Mach Schluss mit dem Vergnügen, du hast dich nun genug amüsiert, Udo!“
Es gab demnach ein nachdrückliches Interesse daran, den unglückseligen Tod Ludwigs als Strafe höherer Mächte für seinen „unchristlichen“ Lebenswandel darzustellen. Immerhin profitierten mindestens drei politische Kräfte vom Ableben des nominellen Erzbischofs von Magdeburg und Mainz. Bei jeder heutigen Ermittlungsbehörde würden angesichts dieser Umstände die Alarmglocken schrillen. Aber für die Historiker gilt ebenso wie für die Juristen das Prinzip der Unschuldsvermutung. Da die Quellenlage es nicht anders hergibt, müssen wir den tragischen Tod des Erzbischofs und „Königsmachers“ Ludwig in Calbe vor 625 Jahren als die Folge unglücklicher Umstände ansehen.
Nachtrag: Acht Jahre nach Ludwig starb auch sein Gegner Adolph von Nassau plötzlich unter großen Schmerzen.
Literatur:
Bautz, Friedrich Wilhelm: Adolph I., in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1.
Hävecker, Johann Heinrich: Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Acken und Wantzleben..., Halberstadt 1720.
Hertel, Gustav: Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.
Liliencron, Rochus Freiherr von: Adolf I., in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1.
Reccius, Adolf: Chronik der Heimat, Calbe/Saale 1936.
Will, o. Vn.: Ludwig, Erzbischof von Mainz und Magdeburg, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 19.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
7. Konrad von Wettin und Erzbischof Albrecht I.
Erschienen im Juni 2007
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Konrad von Wettin |
Einer der „Ostlandexperten“, die 1135 das Stiftskloster „Gottes Gnade“ unter ihren Schutz gestellt und dessen Privilegien bestätigt hatten, gilt als der Stammvater des Königshauses der Wettiner. Er führt den bekannten „Fürstenzug“ am Langen Gang des Stallhofes in Dresden an. Konrad (der Große) von Wettin (um 1098 – 1157) wurde auch der Fromme genannt, weil er nicht nur ein Mann des Schwertes und der Verwandtschafts-Diplomatie war, sondern ebenso die römisch-katholische Kirche in sein Machtkalkül fest einbezogen hatte. Er stiftete auf dem Petersberg bei Halle nahe seiner Stammburg Wettin ein bedeutendes Augustiner-Stiftskloster, von dem Teile im Gegensatz zu unserem Prämonstratenser-Stift noch erhalten sind und das viele Touristen anzieht. In ihm liegt Konrad auch begraben. „Unser“ Erzbischof Wichmann war ein Neffe Konrads. Der Wettiner hatte Wichmann und auch Norbert, den Gründer des Missionierungsstiftes bei Calbe, tatkräftig unterstützt.
Konrad hatte sich fest vorgenommen, Markgraf von Meißen und damit einer der mächtigsten Reichsfürsten zu werden. Als jedoch Kaiser Heinrich V. nicht Konrad, sondern den alten Wiprecht von Groitzsch mit der Meißener Markgrafenwürde belehnte, inszenierte Konrad zusammen mit dem Sachsenherzog Lothar von Süppligenburg (1075-1137) einen Aufstand gegen den Kaiser, besiegte Wiprecht und nahm sich 1124 die begehrte Mark auf eigene Faust. Er hatte Glück: Heinrich V. und Wiprecht starben kurz darauf, und der neue König und Kaiser wurde Lothar, der das Husarenstück im Nachhinein legalisierte. Nach dem nicht so günstig verlaufenen „Wendenkreuzzug“ von 1147 ging Konrad dazu über, die Zukunft seines Herrschaftsgebietes zwischen Saale und Neiße zu sichern, indem er seine Kinder besonders mit slawischen Prinzen und Prinzessinnen geschickt verheiratete. Am Ende seines Lebens war der Markgraf von Meißen und der Lausitz so mächtig, dass er selbst seine Söhne belehnte, ohne sich um das Lehnsrecht des Kaisers zu scheren.
Auch ein Enkel Konrads des Großen hatte mit dem Prämonstratenser-Stift zu tun. Der um 1170 geborene Albrecht I. Graf von Käfernburg (Gebiet um Arnstadt und Ilmenau) war in Paris und Bologna ausgebildet und 1206 durch die Stauferpartei zum Erzbischof von Magdeburg gewählt worden. 1207 weihte er die kleine, heute noch vorhandene Hospitalkirche vor den Toren des Stiftes. Albrecht unterstützte mit allen Kräften die Wahl Friedrichs II., weshalb die welfischen Gegner sein Erzbistumsgebiet, besonders auch Calbe, mit Brand und Vernichtung überzogen. Erzbischof Albrecht ließ nach den schrecklichen Feldzügen Heimatlose in der Magdeburger Neustadt aufnehmen und dieses Territorium in die aufsteigende Handels-Metropole einbeziehen. Seit 1222 Stellvertreter Friedrichs II. in Oberitalien, setzte sich Albrecht für die Aufrechterhaltung des Friedens zwischen Kaiser und Papst ein. Er starb dort im Oktober 1232 und wurde vier Monate später im Dom zu Magdeburg beigesetzt.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
7. Erzbischof Burchard III.
(Die doppelte Nummerierung geht auf ein Versehen zurück, eigentlich ist schon 8.an der Reihe)
Erschienen im Juli 2007
Nach den Kriegs-Wirren des 13. Jahrhunderts begann auch das 14. Jahrhundert für Calbe, besonders durch die verderbliche Tätigkeit eines Politikers, düster und bedrückend. Burchard III. Graf von Mansfeld-Schraplau (um 1280 – 1325) kam 1307 auf den Magdeburger Erzbischofsstuhl. Er begann nach 1314 mit dem Bau eines Schlosses am Nordrand Calbes.
Durch Auferlegung schwerer Zölle, Erpressung immer neuer Steuern und Unterdrückung seiner Bürger machte sich der Erzbischof außerordentlich verhasst. Versprechungen und Verträge hielt er selten. Auch seine eigenen Ministerialen empörten sich gegen ihn, als er 1312 auf Instruktion des Papstes Klemens V. in seinem Territorium, u. a. auch in Brumby (vgl. „Calbenser Blatt“ 6/2006), den Orden der Tempelritter auflöste und dessen Vermögen einzog. Manche Chronisten sprachen sogar von der Verbrennung der Templer. Bei einem Aufstand der Magdeburger gegen Burchard im Jahr 1314 floh er nach Calbe, tat Magdeburg und die ebenfalls rebellischen Domherren in den Bann und rückte mit einem Belagerungsheer gegen sie vor. Nach wochenlanger vergeblicher Blockade gelang es den Magdeburgern, Burchard bei einem Erkundungsgang zu fangen. Als er drei Wochen in Haft saß, schwor er auf die Hostie, die Verträge nun auf das genaueste zu erfüllen. Kaum wieder frei, ließ er sich jedoch vom Papst von diesem Versprechen entbinden, und seine Wortbrüchigkeit und verderbliche Politik besonders gegen die Städte Magdeburg, Halle und Calbe begannen von neuem. Nun vereinigten sich Magdeburg und Halle 1324 zu einem Schutzbündnis, dem auch Graf Burchard von Mansfeld und die Stadt Calbe beitraten. Bald kamen noch der Herzog Otto von Braunschweig sowie fast alle Grafen und Ritter des Harzgebietes und von Barby dazu. Auch das Domkapitel hatte sich von seinem unmoralischen und gefährlichen Erzbischof losgesagt. Die Verbündeten erwischten Burchard 1325 in einem Versteck in Magdeburg und setzten ihn im Kerker für Schwerverbrecher im Keller-Verlies des Rathauses gefangen. Vier Bürger aus Magdeburg, Halle, Burg und Calbe, die Burchard an den Bettelstab gebracht hatte, erschlugen mit je einem Streich mit einer Eisenstange den um Gnade Flehenden. Der Papst belegte die am Mord beteiligten Städte mit dem Bannfluch, der Kaiser mit der Acht, was für die Kommunen 6 Jahre lang erhebliche wirtschaftliche Einbußen und die vogelfreien Bürger in Lebensgefahr brachte. Außerdem führte nun der Bruder des Ermordeten, der Erzbischof von Merseburg, einen langen und verheerenden Krieg gegen Magdeburg, Halle und Calbe. Niemand konnte ahnen, dass 4 Jahrzehnte nach diesen finsteren Zeiten eine zweite Blüte Calbes beginnen sollte. Die ersten Anfänge des Schlossbaues in Calbe verfielen inzwischen wieder.
Persönlichkeiten in der Geschichte Calbes
8. Till Eulenspiegel
Erschienen im August 2007
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Eulenspiegel als gut gekleideter Reisender (Volksbuch 16. Jh.) |
Wenn auch ein historischer Bezug der literarischen Figur zu unserer Stadt nicht durch Quellen belegt werden kann, soll doch Till Eulenspiegel in unsere Persönlichkeitsreihe aufgenommen werden.
Der niederdeutsche Name „Ulenspiegel“ (vulgär: „Leck-mich-am-Arsch“) tauchte im 14. Jahrhundert in der Gegend um Braunschweig in Prozess-Akten auf. Der Braunschweiger Zollschreiber und Schriftsteller Herman Bote (1476 bis ca. 1520) bezeugte in seiner „Weltchronik“ die Existenz eines Till Ulenspiegel, der 1350 gestorben sein soll.
Nach neueren Erkenntnissen des Bamberger Historikers Bernd-Ulrich Hucker gab es einen zur Regensteiner-Bande gehörenden Raubritter und Tunichtgut Thile van Cletlinge (wahrscheinlich: Kneitlingen), der in der ersten Hälfte des 14.Jahrhunderts im Braunschweigischen und Magdeburgischen sein Unwesen trieb und vielleicht das Vorbild für die Außenseiter-Romanfigur abgab.
Nach der Erfindung des modernen Buchdrucks um 1450 kamen clevere Männer auf die Idee, haarsträubende Storys über einen (sicherlich fiktiven) kleinkriminellen und vulgären Zyniker aufzuschreiben und als Buch herauszugeben. „Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel…“ wurde wahrscheinlich von mehreren arrivierten Schriftstellern zusammengestellt, die sich einen Spaß daraus machten, den Zeitgenossen unter dem Deckmantel der Anonymität einen deftigen literarischen Scherzartikel in 96 Histörchen zu servieren.
Herman Bote lieferte in der Gemeinschaftsarbeit des Volksbuches sicherlich auch die „biografischen“ Eckdaten. Und so erfahren wir in der ersten „Historia“:
„Bei dem Walde Melbe genant, in dem Land zu Sachsen, in dem Dorff Knetlingen, da ward Ulenspiegel geboren.“ Er war „eins Buren Sun“ (Vorrede), und seine Eltern hießen Clawes (Claus) Ulenspiegel und Ann Wibcken. Die Eltern müssen Haus und Hof in Kneitlingen verloren haben, denn als Till noch ein Kind war, zog die Familie von dannen in ein Dorf, aus dem die Mutter stammte, „im Magdeburgischen Land an der Saal“ (3. Historia). Mit dem magdeburgischen Land war das Erzbistum Magdeburg gemeint. Dieses besaß nicht allzu viel Territorium an dem Fluss Saale. Außerdem wird uns in der 6. Historia mitgeteilt, dass der jugendliche Till von seinem „Flecken“ aus einen Fußmarsch nach Staßfurt unternahm, um Brot zu besorgen. Klammern wir einmal vorsichtig die Exklave des Erzbistums bei Halle aus, dann kämen wir auf das damals noch existierende „Hondorp“. Dieses Hohendorf wird von manchen Heimatforschern als der Flecken an der Saale favorisiert, in den die landlose Familie Ulenspiegel gezogen sein soll.
Wenn diese schwache und noch dazu vorwiegend literarische, also fiktive Indizienkette verifizierbar wäre, dann hätte der Unruhestifter Till Eulenspiegel im Alter von 16 Jahren den Leuten von Hohendorf seinen ersten berühmten Streich (mit dem Schuh-Chaos) über einem der damals noch vorhandenen vielen Saalearme eine viertel Meile vor den Toren unserer Stadt gespielt.
Erst seit dem 19. Jahrhundert bekam der asoziale Roman-Bösewicht die geläuterte Gestalt des gewitzten Narren und deutschen Robin Hoods – praktisch kinderfreundlich und schulbuchgerecht.
Till Eulenspiegel und der Konjunktiv
Erschienen im September 2007 wegen heftiger Proteste einiger lokaler Eulenspiegel-"Fans", die durch den August-Artikel hervorgerufen worden waren
Eine mögliche historische Identität des bekanntesten deutschen Schalks Till Eulenspiegel ist kaum erforscht, ja selbst die Autorschaft des Volksbuches liegt noch weitgehend im Forschungsdunkel. Die Mutmaßungen reichen von Hermann Bote (Peter Honegger 1973) über Thomas Murner (Johann Martin Lappenberg 1835) bis zu Johannes Grüninger (Jürgen Schulz-Groberts Habilarbeit von 1996). Es ist also durchaus der Konjunktiv wie in meinem Persönlichkeitsartikel Nr. 8 angebracht. Mit dieser vorsichtigen Möglichkeitsform soll aber keinesfalls die verdienstvolle Arbeit calbischer Eulenspiegelforscher und –freunde in Frage gestellt oder gar diskreditiert werden. Diese Arbeit ist im Gegenteil sehr lobenswert, denn gerade in ihr zeigt sich eine tiefe Heimatverbundenheit. Es ging mir lediglich darum, in aller Knappheit den derzeitigen Forschungsstand zum Thema zu umreißen sowie eine klare Trennlinie zwischen einer potentiellen historischen und der literarischen Eulenspiegelfigur zu ziehen. Darüber hinaus fühle ich mich den Heimatfreunden, die durch Schriften und Denkmäler auf ein Wirken des Volksbuch-(Anti-)Helden in unserer unmittelbaren Heimat aufmerksam machen, durchaus verbunden. Und so gilt, was ich in einem vor kurzem gehaltenen Vortrag formuliert habe: „Es ist völlig vertretbar, einer Roman- oder Legenden-Figur Denkmäler zu errichten und damit auch Touristen anzuziehen, wenn man historische Fakten und Dichtung nicht miteinander vermischt. Andere Städte machen das ebenso. Sogar nach dem „Schimmelreiter“ Hauke Haien, der ein pures Phantasie-Produkt Theodor Storms ist, wurden Gaststätten und Landschaften benannt, und die Schimmelreiter-Souvenir-Branche boomt.“
Calbe im 14. Jahrhundert (Serie)
(1. Teil)
Erschienen im Juli 2007
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Niederländisches Dorf im 17. Jahrhundert |
Wenn wir einen Blick zurück in die Geschichte Calbes werfen, fällt auf, dass das 14. Jahrhundert die zweite und letzte Blütezeit für unsere Stadt im Mittelalter brachte, sie aber gleichzeitig von ökologischen, sozialen und politischen Erschütterungen getroffen wurde. Während die Städte bzw. das Stadtbürgertum erstarkte, die Geldwirtschaft sich allgemein durchgesetzt hatte und das kirchlich-scholastische Denken allmählich von einer pragmatischeren Weltsicht verdrängt wurde, trat im 14. Jahrhundert eine Reihe von Krisen auf, die sich wechselseitig durchdrangen und überlagerten.
Die Klima- und die Bevölkerungskrise stehen in teilweisem Zusammenhang und lassen sich vorwiegend auf natürliche Ursachen zurückführen.
Die Ausbreitung des aus Asien eingeschleppten „Schwarzen Todes“ (1347 bis 1352), einer besonders schweren Form der Beulenpest, führte in Europa zur Verminderung der Bevölkerungszahl um mehr als ein Drittel, in manchen Gegenden um die Hälfte. Nach Quellenlage scheint Calbe wunderbarerweise von diesem Desaster weitgehend verschont geblieben zu sein. Warum, ist nicht ganz klar. Jedenfalls hat die danach in den höchsten Tönen gelobte reine und gesunde Luft Calbes unter anderem dazu beigetragen, dass das in den 1360-er Jahren hier erbaute Schloss im Spätmittelalter zur erklärten Lieblingsresidenz der Magdeburger Erzbischöfe wurde.
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Eine andere schwerwiegende Krise wurde von einem durchgreifenden Klimawandel geprägt, der im 14. Jahrhundert eintrat. Das „Goldene Mittelalter“ mit einer „mittelalterliches Optimum“ genannten Warmzeit-Periode ging relativ abrupt zu Ende und wurde durch die bis ins 19. Jahrhundert anhaltende „Kleine Eiszeit“ abgelöst. Diese begann mit Wetterkapriolen und –abnormalitäten. Das Schlimmste aber war: Zu kalte und verregnete Sommer sowie zu lange und bitterkalte Winter traten nun gehäuft auf. Flutkatastrophen suchten die Küstenregionen heim, von denen die bekannteste „de grote Mandrenke“ (das große Menschenertrinken) war, bei der an der Nordsee ganze Landstriche verschwanden und ca. hunderttausend Menschen ertranken. Aus dem Klimawandel resultierende wiederkehrende Hungersnöte dezimierten die Bevölkerungszahl weiter. All das erschütterte die Menschen zutiefst und löste Massenpsychosen aus. Sündenböcke wurden für den Verlust des „Goldenen Zeitalters“ gesucht, und man machte „Ketzer“, Juden und „Hexen“ dafür verantwortlich. 1381 wurde die erste Verbrennung einer Frau, der Bete Peckers, in den Ratsakten von Calbe vermerkt. Auch die Denunziation der geheimnisumwitterten Tempelritter als Ketzer und deren Vernichtung bzw. Enteignung, unter anderem in unserer Nähe in Brumby (vgl. „Calbenser Blatt“ 6/2006) gehört zu diesem traurigen Kapitel. Das relativ schnelle Verschwinden der Weingärten in und um Calbe deutet ebenso auf den allgemeinen Klima-Umschwung hin. Nur Flurnamen erinnern noch an den calbischen Weinanbau.
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Calbe im 14. Jahrhundert
(2. Teil)
Erschienen im August 2007
Auf das Erstarken der Städte und die Durchsetzung der Geldwirtschaft in größerem Maßstab geht unter anderem eine weitere Krise zurück, die so genannte Agrarkrise des 14. Jahrhunderts.
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Flur der Wüstung Gribehne |
Während die Agrarpreise, insbesondere die für Getreide, ständig durch den Landesausbau und verbesserte Anbaumethoden sanken, stiegen die Preise für städtische, immer mehr spezialisierte Gewerbeprodukte. Verschärfend kam hinzu, dass die Grundherren nun von „ihren“ hörigen Bauern die Abgaben in Geldform verlangten, da es ihnen auf den Erwerb wertvoller städtischer Erzeugnisse und Handelswaren ankam. Eine gravierende Auswirkung dieser Preisschere bzw. Agrarkrise war die massive Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte. Ganze Dorfstätten verfielen und verschwanden.
Um Calbe lassen sich mehr als ein Dutzend in jener Zeit aufgegebener Dörfer und Äcker, so genannte Wüstungen, mit einer Landfläche von rund 40km² nachweisen. Den größten Teil des Territoriums gliederten die Bürger nach und nach einfach in ihre Feldmark ein. Die Abschnitte dieses städtischen Ackerlandes wurden der Einfachheit halber nach den Wüstungen benannt. Flurnamen wie Rüstener Berg, Gribehner Teiche oder Hohendorfer Busch erinnern noch daran.
Manchmal wurde sogar die gesamte Bewohnerschaft eines Dorfes in Calbe aufgenommen, wie z. B. die Bauern des Dorfes Balberge, einstmals ca. 2km südlich vor Calbe gelegen, welche innerhalb der Stadt als „Balberger Bauernkonvent“ ihre alten Rechte und Pflichten behielten, die ihnen ihre Grundherrin, die Äbtissin des Gernroder St.-Cyriaci-Stiftes, verbrieft hatte. Wichtig war für die Herrin nur, dass die Bauern auch weiterhin ihre Abgaben – und zwar in Geldform – entrichteten.
Anderer Natur waren die politischen und kirchlichen Krisen des 14. Jahrhunderts, die sich vor allem im rapiden Machtschwund der zentralen Autoritäten ausdrückten. Das Sagen hatten stattdessen die Territorialherrscher und bestimmte Interessengruppen wie Konzilien, Domkapitel, Kurfürsten mit ihrer Klientel, aber auch Städtebünde und andere. Besonders verheerend für die königliche/kaiserliche und päpstliche Herrschaft wirkten sich die schon fast zur Normalität gewordenen Schismen aus, das heißt, die Spaltung in zwei konträr zueinander stehende Parallelgewalten. So bekriegten sich Könige und Gegenkönige und verwüsteten Teile des Reiches. Päpste und Gegenpäpste begaben sich unter den Schutz potenter weltlicher Herrscher und führten nicht selten auch Kriege gegeneinander. Um der Wut der Römer zu entgehen, waren die Päpste seit 1309 ins Exil nach Avignon geflüchtet, wo sie unter der politischen Obhut und Aufsicht der französischen Könige und teilweise auch der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches standen. In diesem destruktiven Wirrwarr, dessen Nutznießer die dezentralen Kräfte waren, florierten die Selbstbedienungspraktiken der Territorialregenten, unter denen hauptsächlich die aufblühenden Städte litten.
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Calbe im 14. Jahrhundert
(3. Teil)
Erschienen im September 2007
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Raubritter überfallen im 15. Jh. ein Dorf |
Auf die Spitze trieb es der Magdeburger Erzbischof Burchard III. Graf von Mansfeld-Schraplau (um 1280 – 1325), der die Kommunen seines Machtbereiches ausplünderte, Verträge zu seinem Vorteil brach und meineidig war. Nach einer Fehde, die er gegen die Magdeburger führte, seiner Gefangennahme und dem bald schon gebrochenen Schwur, sich zu bessern, wurde er in einem erneuten Krieg gegen eine städtische und adlige Front gefangen genommen und von Feme-Mördern brutal hingerichtet Einer der vier Mörder war der Bürger Kupel aus Calbe, den der Erzbischof in den Ruin getrieben hatte. Die anderen drei stammten aus Magdeburg, Burg und Halle. Für diese Bluttat wurden die vier Städte in Acht und Bann getan; ihre Wirtschaft litt darunter gewaltig, die Bürger waren in Lebensgefahr.
Diese katastrophale Situation änderte sich erst, als es dem Böhmen Vaclav aus dem Fürstengeschlecht der Luxemburger unter dem selbst gewählten, bedeutungsvollen Namen „Karl“ gelang, sich gegen einen Gegenkönig durchzusetzen und als deutscher König schließlich zum Kaiser Karl IV. gekrönt zu werden. Karl setzte auf die richtigen „Pferde“: Er förderte die Städte, stärkte die eigene Hausmacht, fixierte die Rechtssituation und machte das Reich durch seine Landfriedensordnung sicherer. Sein Wirtschafts- und Finanzexperte, dem er zum Magdeburger Erzbischofsstuhl verholfen hatte, der Kaufmannssohn Dietrich Portitz, tat viel für das Magdeburger Land und die Städte, insbesondere auch für Calbe.
Erzbischof Dietrich ließ die Stadt Calbe um die Hälfte der ursprünglichen Fläche erweitern, indem er unter anderem erzbischöfliches Gebiet an der heutigen Ritterstraße und Breite für die bürgerliche Bebauung frei gab, die Kommune nach zeitgemäß neuestem Stand mit doppelten Mauern, Schwibbögen und Wehrgängen, Gräben und Türmen befestigen und im Nordosten des Stadtgebietes einen neuen Erzbischofssitz, das festungsartige Schloss, erbauen ließ. Zum Dank halfen ihm die Calbenser mit Bürgertruppen bei der Durchsetzung der Landfriedenspolitik und der Zerstörung von Raubritternestern bei Helmstedt. Raubritter waren zur Landplage und permanenten Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung geworden. Dementsprechend wurden sie auch behandelt.
Das weist uns auf eine weitere Krise des 14. Jahrhunderts hin, auf die des Militärwesens bzw. des Rittertums. Einstmals die Hauptstütze der mittelalterlichen Kriegsführung, verdingten sich nach dem Ende der Kreuzzüge, insbesondere durch die Einführung neuer Waffensysteme und die Schaffung von Formationen bezahlter Berufskämpfer (Landsknechts-Heere), die einstigen Elite-Soldaten zunehmend als Beamte und Offiziere bei den Landesfürsten bzw. bekamen fürstliche Gutshöfe als Rittergüter zum Lehen, wie in Calbe die bedeutende Familie der Ritter von Hacke.
„Arbeitslose“ bzw. nicht anpassungswillige Ritter verschafften sich durch Raubüberfälle ihr oft kärgliches Auskommen. Ihnen drohte als Landfriedensbrecher die Todesstrafe. Übrigens: Jahrzehnte später, 1414 - 1416, saß einer der prominentesten Mordbrenner, Hans von Quitzow, im Turm-Gefängnis des Schlosses von Calbe. Nach zwei Jahren durfte er in die Prignitz zurückkehren und bis an sein Lebensende blutige Plünderungszüge gegen mecklenburgische Städte und Dörfer unternehmen.
Calbe im 14. Jahrhundert
(4. Teil)
Erschienen im Oktober 2007
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Unter der Herrschaft Kaiser Karls IV. und der Regierung des Erzbischofs Dietrich Portitz erlebte Calbe seine zweite und letzte mittelalterliche Blüte. Symbol eines kraftvollen Bündnisses zwischen Kaiser und Stadtbürgern war die Figur des treuen Paladins Roland. Karl IV. machte mit den vorwiegend in norddeutschen Handelsstädten errichteten Roland-Statuen auf sein großes Vorbild Karl den Großen aufmerksam, dessen Aura auch auf seine eigene Herrschaft strahlen sollte.
Von 1381 bis 1499 schrieben die Schöffen von Calbe alle lokalen juristischen Entscheidungen im „Wetebuch“ (Weisungsbuch) auf, um Ausgangspunkte für die weiteren Urteilsfindungen im Sinne einer Rechtsvereinheitlichung zu haben. Damit folgten sie dem Beispiel des ganz in der Nähe Calbes begüterten adligen Schöffen Eike von Repgow (Reppichau), der anderthalb Jahrhunderte zuvor mit seinem so genannten Sachsenspiegel eine Fixierung alter Gewohnheitsrechte vorgenommen hatte. Auf der Basis des „Magdeburger Rechts“ wurden in Calbe kaiserliche und landesherrliche Privilegien und Weisungen zu einem stadtrechtlichen Kanon zusammengefasst, der das juristische Zusammenleben der Stadtbürger regelte. Etwa in dieser Zeit entstand auch die innerstädtische Verfassung Calbes, die „Willkür“, was „freier, eigener Wille“ bedeutete. In dieser wurde dezidiert die eigene Gerichtsbarkeit herausgestrichen. Für Bürger von Calbe konnte kein anderes Gericht, auch nicht das erzbischöfliche, zuständig sein. Ausdruck dieses neuen Selbstwertgefühls war der Roland als Symbolfigur für das Bündnis mit der zweithöchsten juristischen Instanz nach Gott, das Bündnis mit dem Kaiser.
Über eine Krise im klerikalen Bereich, das Mainzer Schisma, ist im „Calbenser Blatt“ (5 und 6/07) bereits berichtet worden. Ein jahrelanger Krieg hatte Mitteldeutschland verwüstet, bis Kaiser Karl IV. den unrechtmäßigen Inhaber des Mainzer Stuhls, Adolph von Nassau zu einem Stillhalte-Abkommen zwingen konnte.
Kaum aber war Kaiser Karl IV. 1378 gestorben, ging die Adolph-Partei daran, das Mainzer Schisma unschön zu beenden. Das Amt sollte Adolph bekommen und Ludwig von Meißen auf Nebenposten abgeschoben werden. Als dieser sich strikt weigerte, drohte der Krieg erneut auszubrechen. Im letzten Moment konnte ein Kompromiss ausgehandelt werden. Adolph wurde offizieller Erzbischof von Mainz. Ludwig behielt diesen Titel, allerdings ohne die Herrschaft über das Erzstift. Zum Ausgleich bekam er den Magdeburger Erzbischofsstuhl. Ludwig, der eigentlich rechtmäßige Erzbischof von Mainz, feierte nach halbjähriger Amtszeit in Calbe ein großes Fastnachtsfest. Am Rosenmontag 1382 fand er während des fröhlichen Balles durch einen Treppensturz den Tod.
Calbe im 14. Jahrhundert
(5. Teil und Schluss)
Erschienen im November 2007
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Die hier nur kurz skizzierten, sich gegenseitig durchdringenden Krisen des 14. Jahrhunderts, besonders die im sozialen Bereich, führten zu einem starken Anwachsen der Schar der Entwurzelten. Noch nie hatten bis dahin so viele Pilger, Bettler, fanatische Geißler, Betrüger und Gruppen von Siechen die Stadt heimgesucht. Die Bürger versuchten sie durch Almosengaben so schnell wie möglich wieder loszuwerden.
Die schwerer Erkrankten und die frommen Pilger wurden in einer Vielzahl von Hospitälern betreut. Außer dem Prämonstratenser-Hospital von „Gottes Gnade“ gab es mehrere solcher Einrichtungen der Bettelmönche am Alten und Neuen Markt. Das städtische Hospital lag an der Heilig-Geist-Kirche, der heutigen Neuapostolischen Kirche. Auch ruinierte und verarmte Stadtbürger, die so genannten Hausarmen, fanden hier eine kärgliche Heimstatt. In dieser wirren und düsteren Atmosphäre bot sich Skurrilitäten aller Art ein günstiger Nährboden. Endzeit-Propheten und Scharen religiöser Fanatiker, die sich mit Peitschen blutig schlugen, verwirrten die verängstigten Menschen noch mehr. Aber auch gerissene Typen, die mit Gaukeleien oder boshaften Tricks den Leuten mit deren eigener Unwissenheit oder Gutgläubigkeit ein Schnippchen schlugen, trieben ihr gefürchtetes, manchmal auch schadenfroh belachtes Unwesen.
Der bekannteste von ihnen, ein entwurzelter Bursche namens Dil „Ulenspiegel“ (hochdeutsch vulgär: „Leck-mich-am-Arsch“) soll im 14. Jahrhundert laut einem Volksbuch, das allerdings erst im 16. Jahrhundert erschien, auch im Erzbistum Magdeburg aufgetaucht sein, vielleicht sogar in der Nähe von Calbe. Das aber ist literarische Fiktion und bislang quellenmäßig nicht belegbar. Der Bamberger Historiker Bernd-Ulrich Hucker geht davon aus, dass die Vorlage für die gemeinschaftsunfähige Romanfigur ein Raubritter namens Thile van Cletlinge (Kneitlingen) war und dass der Autor (vielleicht aber auch mehrere Autoren) mit der Wahl des zweideutigen Namens Ulenspiegel ein haarsträubendes Gegenstück zu der damals beliebten Enzyklopädie-Literatur der Moral- und Rechtsspiegel (vgl. Sachsenspiegel) abliefern wollte. Die verkehrte Welt, die Welt, wie sie nicht sein soll, besonders aber der asoziale Mensch, der mitleidlos gegen seine Mitmenschen vorgeht, wurden in diesem Buch (thematisiert?) abgebildet. Dass die Darstellung von Antihelden in jener Zeit populär war, zeigen u. a. auch die negativen Himmelswächter, die man an der St.-Stephani-Kirche findet (vgl. Artikelserie im „Calbenser Blatt“ 06 und 07).
Nach Kaiser Karl IV. und seinem Sohn König Wenzel verfiel die mittelalterliche Reichsgewalt zusehends weiter. Auch Calbe hatte im 15. Jahrhundert wieder verstärkt unter den Kriegen und Fehden der Territorialgewalten zu leiden. Handel und Gewerbe gediehen, nicht zuletzt durch den starken Anstoß durch Karl IV. und Dietrich Portitz, jedoch auch weiterhin, und der bescheidene Wohlstand der Bürger erlaubte es u. a., die St.-Stephani-Kirche zu einer größeren spätgotischen Hallenkirche zu erweitern. Erst die neuzeitlichen Konfessionskriege des 16., besonders aber des 17. Jahrhunderts, beendeten diese kleine Prosperitätsphase und brachten Calbe wie ganz Deutschland an den Rand des Abgrunds.
„Das Jahr geht still zu Ende“
(Vor 150 Jahren)
Erschienen im Dezember 2007
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Während des Weihnachtsfestes 1857 erreichte eine Todesnachricht die Fürstin von Reuß, eine geborene Gräfin zu Stolberg-Wernigerode. Ihre gute Freundin und Schriftstellerkollegin Marie Caroline Nathusius war plötzlich und unerwartet zwei Tage vor dem Heiligen Abend im Alter von 40 Jahren in Neinstedt verstorben.
Marie, die in Calbe als Tochter des Superintendenten Friedrich August Scheele groß geworden war, hatte den Gutsbesitzer, Fabrikanten und Journalisten Philipp Nathusius geheiratet, mit dem sie nicht nur die Liebe zur Schriftstellerei, sondern auch das soziale Engagement verband. Gemeinsam machte es sich das Ehepaar zur Aufgabe, etwas gegen das mit der Industrialisierung wachsende Arbeiterelend, besonders gegen die Kinder-Verwahrlosung zu tun. Sie gründeten seit 1844 in Althaldensleben und Neinstedt bei Thale eine „Kinderverwahranstalt“ für verlassene und verwaiste Kleinkinder sowie verschiedene „Rettungshäuser“ für Jungen und Mädchen. (Auch bei Calbe wirkte nach diesem Vorbild seit 1884 im Damaschkeplan ein „Rettungshaus“ für verwahrloste Mädchen.) Marie Caroline war nicht nur die beliebte, fröhliche Betreuerin ihrer Zöglinge, sondern auch eine gute Mutter ihrer sieben Kinder. Und sie gehörte außerdem zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Zusammen mit E. Marlitt (eigentlich Eugenie John) führte sie damals die Bestsellerlisten der deutschen Unterhaltungs- und Jugendliteratur an. Zum großen Freundeskreis des Ehepaares gehörten u.a. die bedeutenden sozialkritisch-liberalen Schriftsteller Bettina von Arnim und Hoffmann von Fallersleben. Das Weihnachtsfest liebte Marie Caroline besonders, weil es nicht nur Gelegenheit zur christlichen Besinnlichkeit, sondern ebenso zu der bei Kindern so beliebten Darreichung kleiner Geschenke gab. Für ihre armen Zöglinge wollte Marie Nathusius auch 1857 wieder die Einwohner der nahen Umgegend um bescheidene Weihnachtsgaben bitten. Bei den damit verbundenen Überlandgängen in nass-kaltem Dezemberwetter zog sich Marie eine eitrige Rippenfellentzündung zu und verstarb daran – in einer Zeit als es noch keine Antibiotika gab – kurz vor Weihnachten.
Tief erschüttert schrieb die Freundin, die Fürstin von Reuß, die unter dem Namen Eleonore Reuß veröffentlichte, das vom christlich-pietistischen Pathos getragene Gedicht „Das Jahr geht still zu Ende“, in dem es u.a. heißt:
„Warum es so viel Leiden,
so kurzes Glück nur gibt?
Warum denn immer scheiden,
wo wir so sehr geliebt?
So manches Aug' gebrochen,
so mancher Mund nun stumm,
der erst noch hold gesprochen.
Du armes Herz, warum?“
Respektable Brüder
Erschienen im Dezember 2007
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Beide sind fast gleichaltrig. Der eine ist nur „läppische“ vier Jahrzehnte jünger, dafür aber der zweitälteste, der sich noch im Original erhalten hat. Die Rede ist von den Rolanden von Calbe und Dubrovnik.
Wer die eindrucksvolle dalmatinische Küste an der tatsächlich azurblauen Adria mit den märchenhaften Städten bereist, kommt sicherlich auch in die kulturhistorische „Perle“ Dubrovnik, früher als Ragusa bekannt. An der Nahtstelle zwischen slawischer und romanischer Welt konnten die Ragusaner als Seefahrer und Kaufleute bald zu großem Reichtum gelangen. Sie gründeten zu Beginn des 15. Jahrhunderts einen autonomen Stadtstaat, die vom Adel und Patriziat regierte „Republik Ragusa“. Geschickt stellte sich die Republik unter den Schutz des jeweils mächtigsten Nachbarn. Man zahlte lieber Tribute, als mörderische Selbstbehauptungskriege zu führen. So gelang es u. a., dass Dubrovnik nicht vom Osmanischen Reich einverleibt wurde. Der stärkste Beschützer der jungen Stadt-Republik wurde ein Sohn „unseres“ Kaisers Karl IV., Sigismund von Luxemburg, König von Ungarn und Kroatien.
Aber einen gefährlichen Feind und Konkurrenten hatte Ragusa denn doch: die mächtige Handelsstadt Venedig auf der Nordwestseite der Adria, ebenfalls eine stolze Adelsrepublik. Die gewaltigen Festungsmauern Dubrovniks zeugen vom Standhaftigkeitswillen der Ragusaner gegenüber der venezianischen Bedrohung. „Freiheit kann für kein Gold dieser Welt verkauft werden“, steht in Latein an der Mauer dieser Festung. Während viele Städte an der dalmatinischen Küste von Venedig erobert wurden und als Zeichen der neuen Herrschaft den Markuslöwen aufstellen mussten, triumphierte Dubrovnik mit seinem Orlando (Roland), den man 1419 in mitteleuropäischer Manier auf dem zentralen städtischen Platz an einer Gerichts- und Pranger-Säule aufstellte. König Sigismund hatte die Rolandsymbolik nicht nur von seinem Vater Karl IV. übernommen, sondern auch in seinem Amt als Markgraf von Brandenburg die Rolandfiguren in der Praxis kennen gelernt. Die Bewohner der Stadtrepublik Ragusa waren bei ihren Handelszügen ebenfalls mit den mitteleuropäischen Rolanden als Zeichen des Rechtsschutzes der Städte durch Kaiser oder König in Berührung gekommen. So geschah es, dass unser Roland aus dem 14. Jahrhundert zusammen mit seinen deutschen Freunden einen kleineren (2,20m) Orlando-Bruder an der Adria erhielt, die am weitesten südlich stehende Rolandfigur des Mittelalters.
Da der Dubrovniker Orlando von Anfang an aus Stein gefertigt war, steht er bis heute untadelig an seinem Platz auf der Luza. Unsere Figur in Calbe war zwar 38 Jahre älter, sie musste jedoch schon zweimal durch Nachbildungen erneuert werden, weil sie ursprünglich hölzern war. Und deshalb ist heute der Bruder aus Ragusa der zweitälteste Originalroland nach dem Bremer. Interessant ist, wie die beiden Originale aussehen, denn so ähnlich könnte man sich auch unseren „Ur-Roland“ von 1381 vorstellen. Orlando und der Bremer sind junge gerüstete Ritter des beginnenden 15. Jahrhunderts mit aufwärts gerichtetem Schwert in der rechten Hand und schulterlangem Lockenhaar. Den Schild trägt der Bremer vor der Brust, der Dubrovniker an der linken Seite. Helm und Bart fehlen bei beiden, solche Accessoires bekam der Calbenser wohl erst im 17. Jahrhundert. Das große Erdbeben von 1667 „überlebte“ Orlando ebenso wie den starken Beschuss Dubrovniks im Balkan-Krieg 1991 bis 1995. Unser Roland entstand fast am Ende der großen Zeit Calbes als Handels-Metropole, während der Orlando von Dubrovnik noch vier Jahrhunderte des grandiosen Aufstiegs seiner Kommune beobachten konnte.