Artikel zur Geschichte Calbes

in der "Schönebecker Volksstimme"    

 

Autor: Dieter Horst Steinmetz

 

(Veröffentlichungen nur mit Genehmigung des Autors [[email protected]], bei Zitaten Herkunftsnachweise nicht vergessen!)

 

2005

 

Eine schwedisch-deutsche Liebe in einer finsteren Zeit

 

(Erschienen unter der Überschrift "Calbenser Waise Anna Margareta von Haugwitz wird zur Landesfürstin" am 29.9.2005)

 

Im September jährt sich zum 375. Mal das blutigste Massaker, das Calbe in seiner Neuzeitgeschichte erlebte. Nach der Landung des protestantischen Schwedenkönigs Gustav II. Adolf in Norddeutschland im Juli 1630, mitten in einem Krieg, den man später den Dreißigjährigen nennen sollte, hatte sich der magdeburgische Administrator unverzüglich auf die Seite Gustav Adolfs gestellt und seine Militärstützpunkte verstärkt. Als von ihm ins befestigte Schloss von Calbe eiligst 750 Musketiere entsandt wurden, folgten dorthin mehrere katholisch-kaiserliche Regimenter unter General Viermond von Neersen. 8 Tage lang ließ der General die Stadt mit 40-Pfünder-Kanonen sturmreif schießen, während sich von Mauern und Türmen herab die Schlossbesatzung und die Bürger tapfer wehrten. Am Sonntag, dem 22. September 1630, konnte Calbe der Übermacht nicht mehr standhalten, und es begann in der Stadt eine einundzwanzigstündige Orgie der Gewalt; die Kaiserlichen raubten, mordeten und schändeten. Schnell mussten am Montag Massengräber neben der Stadtkirche ausgehoben werden, um die vielen Opfer des Massakers beerdigen zu können.

Dieser Tragödie des Jahres 1630 fiel auch die calbische Familie der Rittergutsbesitzer von Haugwitz zum Opfer. Das Rittergutsgebäude (auf dem Gelände eines alten Königshofes) befand sich wenige Meter westlich neben der St.-Stephani-Kirche. Das umtriebige, bedeutende Adelsgeschlecht der von Haugwitz stammte ursprünglich aus Sachsen. Balthasar von Haugwitz, der die Tochter des Calber Schlossvogtes geheiratet hatte, war 1626 in Brandenburg gestorben, wahrscheinlich in militärischen Diensten für den Administrator. Mutter Sophie musste nun 5 Kinder allein durch eine Zeit des Hungers und der Verwüstung bringen. Als die Kaiserlichen in Calbe wüteten, kamen auch die Mutter und vier Kinder ums Leben. Eine achtjährige Tochter überlebte – auf welche Art und Weise, wissen wir nicht – wie durch ein Wunder, die kleine Anna Margareta von Haugwitz. Barmherzige Menschen brachten die halbverhungerte und verwahrloste Waise nach Egeln in das immer noch intakte Zisterzienserinnen-Kloster „Am Marienstuhl“, wo sie gepflegt und erzogen wurde. Und nun folgt eine wunderbare Geschichte, die nicht ein Romanautor schrieb, sondern das reale Leben:

1632 hatte der erfolgreiche General Johann Banér u. a. die Stadt Egeln von der schwedischen Krone zum Lehen bekommen, wo er sich im Renaissance-Schloss prächtig einrichtete. Zu seinem Feldherrenhof gehörte auch eine schöne, kluge und tapfere Frau, die ihren Mann in schwedischen Kriegsdiensten verloren hatte und völlig verarmt, mit ihrer Tochter bettelnd von Behörde zu Behörde gezogen war, die Gräfin Elisabeth Juliane von Löwenstein, mütterlicherseits von Barby-Mühlingen abstammend. Der allmächtige Banér, der stets eine Schwäche für schöne Frauen zeigte, hatte die Gräfin und ihre Tochter in seinen Hofstaat aufgenommen.

Bei einem Spaziergang traf nun die Gräfin in Egeln auf die Kloster-Zöglinge und fragte ein schönes Mädchen nach seiner Herkunft. Als sie erfuhr, dass es sich um Anna Margareta aus der bekannten Familie von Haugwitz handelte, nahm sie kurz entschlossen das Mädchen aus dem Kloster und bei sich auf. Die Gräfin, eine echte „Mutter Courage“ der Oberschicht, wurde Anna Margaretas zweite, innig geliebte Mutter. Nach dem Tod seiner schwer kranken Frau heiratete Banér Elisabeth Juliane, und Anna Margareta wurde so ein Mündel des bedeutenden Feldherrn. Hier musste das Mädchen beim Umherziehen von einem Kriegsschauplatz zum anderen die Leiden der Zivilbevölkerung in ihrer engeren und weiteren Heimat zwangsläufig mit angesehen. Bis zu ihrem 26. Lebensjahr lernte sie meist nur Not, Elend, Grausamkeit, Krankheit und Tod, eben die großen und kleinen Tragödien des Dreißigjährigen Krieges, kennen. So wurde das Mädchen in Banérs Feldherrnhof unbewusst auf das harte Leben als künftige Kommandeursfrau vorbereitet.

Einer der Unterführer Banérs, der junge Generalmajor Karl Gustav Wrangel aus einer berühmten baltisch-schwedischen Offiziersfamilie, hatte bei seinen dienstlichen Kontakten die junge Schönheit aus Calbe kennen gelernt. Er verliebte sich sofort in sie, und die beiden wurden ein Paar. Als die geliebte und verehrte Pflegemutter einer Seuche zum Opfer fiel, zögerte der 27-jährige Wrangel nicht lange und heiratete trotz der wütenden Proteste des Vaters, die aus Schweden eintrafen, die 18-jährige Anna Margareta am 1. Juni 1640 im riesigen Feldlager vor Saalfeld, in einer schwer heimgesuchten Gegend, wo sich seit Monaten die kaiserliche auf der einen und die schwedische Armee auf der anderen Seite gegenüber lagen. Nicht nur Vater Wrangel war in Schweden schockiert, dass der Sohn eine Deutsche aus der Provinz und noch dazu eine besitzlose Waise geheiratet hatte, auch die ledigen schwedischen Damen waren enttäuscht. Aber der Situationskünstler Karl Gustav Wrangel war wie oft in seinem Leben seinem untrüglichen Gefühl gefolgt. Nicht nur in militärischen Dingen eilte er von Sieg zu Sieg, auch seine Ehe mit der schönen Frau aus Calbe war allem Anschein nach mit Harmonie gesegnet. Die Feldherrenfrau Anna Margareta schenkte 11 Kindern das Leben, von denen die meisten das sechste Lebensjahr auf Grund der damals hohen Kindersterblichkeit nicht erreichten. Heute leben noch in aller Welt Nachkommen des Ehepaares.

Anna Margareta Wrangel aus Calbe führte nun nach einer bitteren Zeit der Not und des Elends an der Seite ihres Mannes, der wegen seiner militärischen Erfolge inzwischen zum schwerreichen schwedischen Reichsmarschall, Reichsrat, Reichsadmiral, Generalgouverneur von Pommern und Graf von Salmis avanciert war, das Leben einer schwedisch-pommerschen Landesfürstin. Nach längerer Krankheit starb sie 51jährig in Stockholm am 20.3.1673, ihr Mann einsam und gebrochen am 25.6.1676 im Schloss Spyker auf Rügen.

In ihrem Testament hatte die Gräfin ihre Geburtstadt Calbe mit einer hohen Summe für einen bis ins 20. Jahrhundert bestehenden Fonds bedacht, aus dem die Bedürftigen unterstützt wurden.

 

 

 

Beginen - die sanften Rebellinnen und barmherzigen Schwestern - in Calbe und Schönebeck

 

Erschienen unter der Überschrift "Beginen waren fromme Schwestern" am 3.11.2005 

 

1305 wurde die Heiliggeist-Kirche in Calbe (s. links), deren würdige 700-Jahr-Feier vor einigen Wochen bereits stattfand, erstmalig erwähnt.

Ein Hof mit Unterkünften dicht bei dieser Kirche, die davor schon längere Zeit existiert hatte, war Teil der Armenstiftungen Calbes, zu denen auch das „Elenden“-Stift des „Heiligen Geistes“ gehörte. Calbe besaß wie jede mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt eine nicht unerhebliche Schicht der "Armut", bestehend aus hungernden Besitzlosen, Krüppeln, Schwerkranken (Siechen), einmal ganz abgesehen von den Scharen auswärtiger Bettler und Pilger. Die kommunalen Stiftungen waren ein Teil des damaligen "sozialen Netzes", mit dem man die städtischen Unterschichten unter Kontrolle brachte, die Ausbreitung von Seuchen verhinderte sowie Verbrechen und Krawallen vorgebeugte.

Die Hospital-Anlage, ein kleiner Komplex von Hütten, war ein Beispiel für mittelalterliches und frühneuzeitliches Verständnis von sozialem Engagement. Die Sozialeinrichtung für Arme, Alte, Schwache und Kranke wurde im Hoch- und Spätmittelalter u. a. von einer nicht-klösterlichen Gemeinschaft, den Beginen, betreut.

Diese Frauen verdienen es durchaus, der Vergessenheit entrissen zu werden!

Im 12. Jahrhundert lässt sich bei den Damen der Oberschicht ein verstärktes Interesse an Bildung und Unabhängigkeit von Konventionen nachweisen. Der neu gegründete Orden der Prämonstratenser konnte den Andrang der Bewerberinnen, die als Laienschwestern aufgenommen werden wollten, kaum bewältigen. Auch das Stiftskloster „Gottes Gnade“ nahe bei Calbe musste  fast ebensoviel weibliche wie männliche Konversen, natürlich streng getrennt, aufnehmen. Das Klosterleben hatte aber auch einen Nachteil: Ordensnonnen verloren ihren weltlichen Besitz und mussten in der Abgeschlossenheit leben.

Da kam aus Flandern eine neue Bewegung über das Rheinland bis in unsere Gegend, die möglicherweise auf den Priester Lambert de Bègue zurückging – daher der Name: Beguinen (Beginen). Ledige oder verwitwete Frauen aus dem bürgerlichen Patriziat und aus dem Hochadel lebten in Beginenhöfen unter einer frei gewählten „Meisterin“ in religiöser Andacht, gehörten aber keinem Orden an. Zur Patronin wählten sich die deutschen Beginen oft die heilige Elisabeth von Thüringen (1207-1231), die sie wegen deren sozialen Engagements als ihr Vorbild ansahen. Sie widmeten sich der christlichen Nächstenliebe, besonders der Krankenpflege und Sterbebegleitung, aber auch der handwerklichen Tätigkeit, in erster Linie dem Textilgewerbe, und nahmen am öffentlichen Leben (ebenso wie die s. g. Bettelmönche) teil. Ihr Gelübde wurde jährlich erneuert, und jede Hof-Insassin konnte nach Ablauf eines jeweiligen Gelübde-Jahres, wenn ihr dieses Leben nicht mehr zusagte oder wenn sie heiraten wollte, die Gemeinschaft wieder verlassen. Im 14. Jahrhundert gehörten zu den Elisabethinnen bzw. Beginen auch Frauen aus der Mittelschicht. Die Beginenhöfe wurden wegen der teilweise eingebrachten Vermögen und des großen Fleißes der Insassinnen zu wirtschaftlichen und charitativen Zentren. Man nannte sie „Schwestern“, ebenso wie die Nonnen, und noch heute bezeichnen wir die fürsorglichen Frauen in unseren Krankenhäusern so. Beginen waren nachweislich nicht nur in Calbe im Heiliggeist-Hospital, sondern auch in Schönebeck tätig. Das Schönebecker „Beginenhaus“ wurde 1971 wegen Baufälligkeit abgerissen (s. unten). Auch in Calbe existiert es nicht mehr, aber einer der Orte des sozialen Beginen-Engagements ist noch durch die Heiliggeist-Kirche gekennzeichnet.

Doch es liegt auf der Hand, dass diese zwar katholisch-fromme, aber demokratisch organisierte Gemeinschaft freier Frauen, die sogar unternehmerisch tätig waren, dem Klerus suspekt wurde. So verwundert es nicht, dass seit dem Ende des 14. Jahrhunderts die Beginen, die ihre Heilerfolge unter anderem auf das alte Volkswissen „weiser Frauen“ begründeten, in die Nähe der Ketzerei gerückt, vertrieben und in mehreren Fällen verbrannt wurden. Auch die legendären Tempelritter, die einen ihrer Sitze in Brumby gehabt hatten und ebenso wie die Beginen über „Geheim“-Wissen und über ein beachtliches Vermögen verfügten, waren 1312 im Rahmen einer gesamteuropäischen Vernichtungsaktion im Erzbistum Magdeburg „ausgerottet“ und ihre Besitztümer eingezogen worden.

Sollte die 1381 in Calbe auf dem Scheiterhaufen verbrannte (Elisa-)Bete Peckers gar eine „Elisabethin“, also eine Begine, gewesen sein? Auf alle Fälle wurde hier nachweislich noch 3 Jahrhunderte später (1634) eine Schwester aus dem Heiliggeist-Stift namens Ursula Wurm wegen eines „Teufelspaktes“ und der angeblich schadenbringenden Benutzung von Kräutern „dem Feuer übergeben“.

Wir können heute stolz darauf sein, dass diese sanften Rebellinnen gegen mittelalterliche Machtstrukturen, die liebevollen Schwestern und erfolgreichen Textilunternehmerinnen, auch in Calbe und Schönebeck gewirkt haben. Sie hätten es sicherlich verdient, an ihren Wirkungsorten mit  Gedenkplaketten gewürdigt zu werden.

 

Ausgewählte Literatur:

Amalie Fössel/Annette Hettinger, Klosterfrauen, Beginen, Ketzerinnen. Religiöse Lebensformen von Frauen im Mittelalter, Idstein 2000.

Johann Heinrich Hävecker, Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Acken und Wantzleben Wie auch des Closters Gottes Gnade ..., Halberstadt 1720 [Nachdruck 1897].

Fritz Heiber, Die Kultur- und Naturdenkmale des Kreises Schönebeck, Calbe 1967.

Gustav Hertel, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

 

 

Der Pestpfarrer von Calbe – Cyriakus Müller

 

Erschienen unter der Überschrift "Pestpfarrer Cyriakus Müller war bibelunsicher, aber mutig" am 2.12.2005 

 

In Zeiten der Pest, die Europa vom 14. bis 17. Jahrhundert durchleiden musste, gab es eine spezielle und seltene Berufsgruppe: die Pestpfarrer. Da die von der

Toggenburg-Bibel 1441: "Die Beulenpest"

 meist tödlich verlaufenden, hochinfektiösen Pest befallenen Menschen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in schrecklicher Angst lebten, ohne geistlichen Beistand sterben zu müssen, wurden Pfarrer gebraucht, die das gefährliche Amt des Pestseelsorgers übernahmen. Ein solcher Pestpfarrer ging, wenn oftmals sogar die engsten Angehörigen des Kranken in Panik geflüchtet waren, in das Haus des qualvoll Sterbenden und spendete unter Lebensgefahr letzten Trost. Viele Geistliche überlebten dieses Werk der christlichen Nächstenliebe nicht. Einige von ihnen gingen in die Geschichtsannalen und in die Literatur ein, wie der berühmte Pestpfarrer von Annaberg, Wolfgang Uhle (1512-1594).

Auch in Calbe wirkte ein solcher bemerkenswerter Mann, der es verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden.

Der „Schwarze Tod“ von 1347 bis 1352 ging eigenartiger- und glücklicherweise an Calbe vorbei. Erstmalig trat hier die Pest 1548 bis 1552 mit solcher Heftigkeit auf, dass ein neuer Stadt-Friedhof in der Nähe der Lorenzkirche angelegt werden musste.

Weil es den Stadtpredigern (Pfarrer und Diakon) bei der zweiten Pestwelle in Calbe 1566 ratsam erschien, sich von solchen lebensbedrohlichen Aufgaben fernzuhalten, um sich der Gemeinde für bessere Zeiten zu erhalten, wurde ein Pfarrer der Vorstadtgemeinde, also ein Dorfpfarrer, für das Amt des städtischen „Pestilentialis“ auserkoren.

Laurentiuskirche in Calbe

Cyriakus Müller (1533-1587) hatte in der Hochburg der Reformation, in Wittenberg, studiert, wo er führende Köpfe des Protestantismus kennen lernte, und war dort 1557 zum Pfarrer ordiniert worden. Müller wurde auf den Dörfern in der Umgebung Calbes eingesetzt. Er heiratete Gertrud Kretzmar (gest. 1578), von der berichtet wird, sie sei eine ehemalige Angestellte des „Gemeinen Hauses“, das heißt des städtischen Bordells, gewesen. Cyriakus Müller betreute außer der Laurentiusgemeinde die Gemeinden Schwarz und Trabitz und war Armenpfarrer im „Stift der Elenden“ (Heiliggeistkirche). Bei einer der ersten Kircheninspektionen hatte man den Pfarrer als nicht besonders fest in der Bibeltheorie eingeschätzt. Das hinderte die Herren aber nicht, Müller in Zeiten großer Not als Pestpfarrer zu „gebrauchen“, wie sich J. H. Hävecker ausdrückte, denn zu diesem Amt benötigte man weniger Bibelfestigkeit als vielmehr Courage und christliche Nächstenliebe, und die besaß der mutige Mann. Zum „Dank“ durfte er lediglich manchmal als Hilfs-Diakon fungieren. Das störte Cyriakus Müller wohl wenig. Nachdem er die Pest überlebt hatte, betreute er weiterhin die Bauern, Fischer und Armen.

Ein beachtenswerter Mann!

 

Literatur:

Gertrud Busch, Der Pestpfarrer von Annaberg, Berlin 1951 (1962).

Johann Heinrich Hävecker, Chronica und Beschreibung der Städte Calbe…, Halberstadt 1720 [Nachdruck 1897].

Gustav Hertel, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Adolf Reccius, Chronik der Heimat (Urkundliche Nachrichten über die Geschichte der Kreisstadt Calbe und ihrer näheren Umgebung), Calbe/Saale 1936.

 

2006

 

Weihnachten und Neujahr im Ersten Weltkrieg

 

Erschienen in drei Teilen unter den Überschriften "Der nationalen Begeisterung folgte das Grauen des Krieges", "Liebespakete für die Männer in der >Blutmühle< der Schlacht" und "Schlange stehen für ein paar Kohlrüben" am 4., 5. und 7.1.2006

 

Im August 1914 glaubte die Mehrheit der Menschen auch in unserer Heimat, dass ihre jungen Soldaten in dem Krieg, den man später die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte, einen ebenso raschen und „grandiosen“ Sieg wie anno 1870/71 erringen würden. In einer Woge der nationalen Begeisterung hatten sich u. a. Abschlussklassen von Realschülern in den Städten unseres Kreises und des Lehrerseminars in Barby nahezu geschlossen als Freiwillige an die Front gemeldet. In der Nacht vom 7. zum 8. August verabschiedeten die Calbenser auf ihrem Marktplatz eine große Anzahl der ersten Kriegspflichtigen aus Calbe, Nienburg und anderen Orten des Kreises in einer patriotischen Kundgebung. Landrat Kothe und Bürgermeister Dr. Büttner hielten zündende Ansprachen, „und brausend erscholl das Hoch auf unseren Kaiser und das Vaterland. - Gewiß, auch hier kam bei den zurückgebliebenen Angehörigen die Wehmut zum Ausdruck, aber hoffnungsfroh und siegesmutig zogen die Krieger hinaus. Möge Gott sie geleiten und ihnen eine gesunde Heimkehr bereiten.“ (SLZ 8.8.1914.) Ähnlich wie 27 Jahre später waren viele Menschen davon überzeugt, dass „deutsche Überlegenheit“ in einem raschen Bewegungskrieg (Blitzkrieg) die Gegner überrennen könnte und die meisten Soldaten Weihnachten wieder zu Hause seien. So zogen die jungen Männer „voller Schneid“ unter solch dümmlich-chauvinistischen Losungen an die Fronten wie: „Jeder Schuß ein Russ´, jeder Stoß ein Franzos´!“, „Aus den Serben machen wir Scherben!“, „Auf nach Paris - in 14 Tagen dort Gartenfest!“, „Rußland wird bayrisch, England kommt zu Württemberg!“ (SLZ 8.8.1914.) Die ersten Wochen verliefen noch im ost- und westwärts gerichteten Vormarsch der deutschen Truppen, und in den Zeitungen wurden Feldpostbriefe voller Überheblichkeit und Großmäuligkeit abgedruckt. Ein junger Unteroffizier aus Calbe schrieb im September 1914 beispielsweise: „Liebe Eltern… Was denkt Ihr wohl, wenn sie uns loslassen, wir machen alles kaputt! Wir kamen am vorigen Sonnabend in ein Dorf, da war ich als Unteroffizier mit noch acht Mann vorgeschickt. Meine Leute hatten jeder eine Sprengpatrone bei sich… Ich schnappte mein Gewehr, 2 Schläge gegen [eine] verschlossene Haustür, schon war ich drin. Jetzt kommt ein Kerl auf mich zugesprungen… und schießt auf mich, doch der Schuß blieb im Kochgeschirr, in meinem Pfund Butter sitzen. Ich pflanzte das Seitengewehr auf und stach den Halunken durch die Brust, dieser sank tot zu Boden. Von meinen Leuten kam nun ein Mann mit der fertigen Sprengladung. Ich steckte die Patrone an und warf sie in den Hausflur… Die Sprengladung explodierte und das Haus stand in Flammen… Dann haben wir aus einem anderen Hause ein Faß Wein und einen Schinken von 30 Pfund geholt, welchen wir in aller Gemütsruhe verzehrt. Ich kann Euch sagen, hier wird man so kalt, wenn man so’n Franzmann schnappen kann, so ist er verloren. Und vor uns Pionieren haben sie riesige Angst, wenn sie uns mit aufgepflanztem Seitengewehr kommen sehen, schmeißen sie die Gewehre von sich und rufen so laut sie können: ,Pardon Monsieur! Pardon Monsieur!’ Wir sind eben dabei, uns ein Paar Kartoffelkuchen zu backen. Der eine hat ein Sack Mehl geklaut, der andere hat Öl usw. - Wein die Menge. Die verbrannten Kuchen kriegen die französischen Kinder, die hier halbverhungert  herumlaufen.“ (SLZ 30.10.1914.)

Solche peinlichen Veröffentlichungen unterblieben aber, als der „siegreiche Vormarsch“ im November ins Stocken geriet und sich der Bewegungs- in einen verlustreichen Stellungskrieg verwandelte. Nun reflektierten die Feldpostbriefe Not, Schmerz und Grauen der Materialschlachten. In den Argonnen, wo die Fronten sich festgefressen hatten, und ein erbitterter Kampf um ein Vor oder Zurück tobte, lagen die vielen Toten unbeerdigt, teilweise in Bergen übereinander im zerbombten Niemandsland. Die meisten Gefallenen blieben nun in fremder Erde. Trotz „unglaublich heftigen Durchbruchsversuchen“ und stündlich wiederkehrendem Hagel von Granaten, Schrapnells und Infanterie-Geschossen konnten die deutschen Soldaten die Stellungen halten, wie ein Calbenser berichtete (SLZ vom 5.11.1914). In einem ungeschönten Feldpostbrief vom 2. November 1914 beschrieb der junge Soldat Curt aus Calbe einen Sturmangriff, der 30 Stunden dauerte, ohne Ergebnis verlief und bei dem in einem Zug seiner Kompanie 64% Verluste zu beklagen waren. Er schrieb u. a.: „Wenige Meter waren wir so vorgegangen, da ging es los, immer schneller kamen die Kugeln gepfiffen. Im Marsch-marsch ging es vor, 50 Meter. Da kam das Kommando: ‚Stellung!’, alles lag. So ging es weiter, im Sprung für Sprung, die Kugeln pfiffen unheimlich… Beim zweiten Sprung setzte die französische Artillerie ein, nun hieß es vor, damit wir das Artilleriefeuer hinter uns bekamen. So ging es vor, das Gepäck in der linken Hand, damit man es beim Hinlegen sofort vor sich legen kann, so waren wir wohl 600 Meter vorgekommen. Vor uns deutsche Granaten, hinter uns französische, dazwischen ein rasender Kugelregen…“ (SLZ 18.11.1914.) Solche Briefe waren zu deprimierend für die heimatlichen Kreiszeitungen, und so unterließ man ihren Abdruck bald ganz.

Als in der Heimat klar wurde, dass die Männer Weihnachten 1914 nicht wieder zu Hause sein und auch Neujahr in der „Blutmühle“ der Materialschlachten zubringen würden, kam in unserem Kreis wie überall eine Welle der Sammlungen und Hilfssendungen ins Rollen. Besonders die calbischen Frauenvereine organisierten Spenden aus der Bevölkerung und verschickten „Liebespakete“ an die Soldaten.

Die Frauen wurden durch den Krieg in eine neue Rolle gedrängt. Junge Mädchen, auch die aus bekannten calbischen Unternehmerfamilien, versahen Dienst als Kriegs-Krankenschwestern in den Lazaretten. Frauen mussten plötzlich Berufe ausüben, die bislang den Männern vorbehalten waren (Briefträgerin, Schaffnerin, Buchhalterin usw.), und so manche Soldatenfrau oder Kriegerwitwe versuchte, neben ihren Kindern auch den familiären Handwerks- und/oder Landwirtschaftsbetrieb durch den Krieg zu bringen. Ein Teil der weiblichen Bevölkerung sah sich gezwungen, in Magdeburger und Schönebecker Rüstungsbetrieben zu arbeiten, um durch einen kleinen Zusatz zur Lebensmittelkarte für sich und die Kinder den bitteren Hunger zu lindern. Betrügereien, Hamsterkäufe und Hungerdiebstähle nahmen drastisch zu. Schlimm waren die Hungerweihnachten 1915 bis 1917. Nach Zeitzeugenberichten war es zu Weihnachten und in der Silvesternacht 1915 unheimlich still und dunkel in der Kreisstadt Calbe (SLZ 31.12.1915). Kerzen gab es nur wenige in Form von teuren Talglichtern. Stearin und Petroleum waren vom Staat eingezogen worden, und auch die Haushalte, die Gas- oder gar schon Elektrobeleuchtung besaßen, litten unter der nur noch spärlich fließenden Energiezuführung. Kohle war knapp. Viele Menschen froren. Keine lärmende Fröhlichkeit in den Gaststätten und Kneipen. Weihnachtsbäckerei war wegen der dazu notwendigen Nährstoffe seit 1915 per Gesetz verboten (SLZ 12.9.1915). Besonders traurig war das Weihnachtsfest 1914 für die Angehörigen eines 17-jährigen Kriegsfreiwilligen aus Calbe. Er fiel in einer der Dezemberschlachten kurz vor dem Heiligen Abend. Um die Weihnachtsdepressionen abzuschwächen, fanden vor den Feiertagen 1914 und 1915 „Patriotische Familienabende“ mit viel Pathos und Schwulst in der „Reichskapelle“ statt, aber auch diese unterblieben in den nächsten Jahren, weil die Menschen immer schlechter auf „Kaiser und Vaterland“ anzusprechen waren.

Eine besonders hohe Kindersterblichkeit trat in Calbe 1915 auf, und die Geburtenrate sank 1917 gegenüber 1914 auf 38%. Die kaiserliche Regierung, die anfangs auf ein rasches Kriegsende eingestellt war, sah sich nicht in der Lage, eine einigermaßen zufrieden stellende Versorgung der Bevölkerung in dem sich immer länger hinziehenden Krieg zu gewährleisten. Es mangelte nicht nur an Grundnahrungsmitteln, sondern auch an allen Dingen des täglichen Bedarfs, weil der größte Teil der ohnehin immer weniger werdenden Produkte an die Fronten ging. Recht abenteuerliche Ersatzstoffe kamen, manchmal mit verheerenden Folgen für die Gesundheit, in den – oft illegalen - Handel. Einen Höhepunkt erreichte die Versorgungskrise nach einer katastrophalen Kartoffelernte (50 Prozent des durchschnittlichen Ertrags) im Winter 1916/17. Als Ersatz für die Kartoffeln wurden rationierte Kohl- bzw. Steckrüben ausgegeben („Kohlrübenwinter“). 1917 hatten die zugeteilten Lebensmittel durchschnittlich 1.000 Kalorien, der errechnete tägliche Bedarf lag aber bei 2.280 Kalorien. Der schwarze Humor einer Hausfrau kam in einem am Heiligen Abend 1915 veröffentlichten Gedicht zum Ausdruck:

„Montags koch’ man ohne Fett

Dienstags fleischlos (auch ganz nett),

Mittwochs kann man alles essen

Donnerstags das Fett vergessen!

Freitags gibt’s ein Fischgericht,

Schweinefleisch am Sonnabend nicht,

Sonntags hat man endlich Ruh –

Denn da sind die Läden zu!“ (SLB 24.12.1915.)

 

In den Zeitungen wurde bekannt gegeben, wann es in den einzelnen Läden - nach Stadtvierteln getrennt – die geringen Zuteilungen an Grundnahrungsmitteln auf Marken gab, dann standen die Einwohner in Calbe und in den anderen Städten und Dörfern in langen Schlangen an, die sie schwarzhumorig „Polonäsen“ nannten.

Die Gesundheit der Menschen an der „Heimatfront“ war durch den ständigen Mangel so untergraben, dass in der Woche vor Weihnachten 1916 in Calbe und im Kreis Scharlach, Diphtherie sowie Lungen- und Kehlkopftuberkulose ausbrachen, woran auch mehrere Menschen starben (SLB 28.12.1916). 1918 war dann noch die hochinfektiöse „Spanische Grippe“ hinzugekommen, die ganze Wirtschaftszweige lahm legte. Die Bürger in Calbe hatten Weihnachten 1914 und 1915 Gott um einen raschen Sieg gebeten, 1916 und 1917 flehten sie nur noch um ein baldiges Ende des „mörderischen Krieges“: „Herr, lasse Frieden werden!“

Trotz der Not eines großen Teils der Einwohner spendeten die Calbenser weiterhin selbstlos für „ihre“ Frontsoldaten, auch als der Militär-Staat seit 1916 durch Zwangsbewirtschaftung ohnehin alles vom Nähfaden und Papier bis zum Metall und Pferdefutter beschlagnahmte. Die Weihnachts-Liebessendungen enthielten wollene Unterwäsche, Strümpfe und Kopfschützer sowie Kekse, Tabakwaren und alkoholische Getränke. Die Pakete wurden zur Weiterleitung an die Fronten mit Möbelwagen aus Calbe nach Magdeburg gebracht. Wie die Realität eines Liebesgaben-Empfanges unter Feldbedingungen aussah, schilderte der Feldpostbrief eines Calbensers: Während des mörderischen Hagels von Geschossen wurden die im Regen im Schützengraben schlafenden Soldaten geweckt: „Liebesgaben empfangen!“ 6 frierende Männer teilten sich nun eine Flasche Bier und ein Stück Schokolade. Dann wurde, vom Wachestehen unterbrochen, stundenweise weitergeschlafen, bis es sechs Stunden später hieß. „Sturmangriff vorbereiten!“ (SLZ 28.10.1914).

Erst die Weihnacht und die Sylvesternacht 1918 wurden Feste des Friedens, die Calbenser hatten 393 ihrer Söhne, Väter, Brüder, Verlobten und Ehemänner verloren. Die Zahl erhöhte sich in den nächsten Jahren noch durch den Tod zurückgekehrter Schwerverwundeter, so dass sie bei über 400 lag. In dieser Zahl waren aber nicht die Hunderte in der Heimat Gestorbener - besonders Ärmere, Ältere und Kleinkinder - enthalten, die der Mangelernährung und den daraus resultierenden Seuchen erlagen. Durch den Ersten Weltkrieg gingen nicht nur viele kleine calbische Handwerks- und Landwirtschaftsbetriebe in die Pleite, auch ein großer Teil der einst blühenden Tuchindustrie machte Bankrott oder siedelte sich woanders an. Kaum hatte sich die Kreisstadt - inzwischen als großer „Bollenproduzent“ - etwas von der Katastrophe erholt, kam 21 Jahre später im Gefolge des Ersten schon der Zweite Weltkrieg mit über 600 Gefallenen. Die weiteren Folgen und Auswirkungen sind bekannt.

 

Quellen:

Stadt- und Landzeitung – Allgemeiner Anzeiger für Calbe und Umgebung, Jg. 1914 – 1918 (im Text: SLZ).

Stadt- und Landbote – Amtliches Calbesches Kreisblatt, Jg. 1914 – 1918 (im Text: SLB).

Gedenkblatt der Gefallenen im Weltkriege - Verzeichnis der im Feindesland und in der Heimat verstorbenen Krieger, Calbe 1929, in: Stadtarchiv Calbe.

 

 

 

Die Abenteurerin und Lesbe C. M. Linck

 

Erschienen in zwei Teilen unter den Überschriften "Catharina Margaretha Linck führte ein verwegenes Leben" und "Catharina Margaretha Linck wurde öffentlich enthauptet" am 9. und 21.2.2006

 

Im Frühjahr 1703 machte sich ein 15jähriges Mädchen aus Halle auf den Weg nach Calbe an der Saale. Die wie eine Magd gekleidete gut aussehende junge Frau trug ein Bündel auf dem Rücken und hatte eine kräftige Statur.

Mit ihrem Weggang aus Halle ließ Catharina Margaretha Linck eine mögliche bürgerliche Zukunft  hinter sich. In ihrem jungen Leben hatte sie bereits Schlimmes erleiden müssen, aber auch großes Glück erfahren.

Ihre Mutter Magdalena (1656-1739) war 1675 in Schönebeck/Elbe die Ehe mit dem Tuchmacher und Bürger Martin Linck eingegangen. Der bescheidene Wohlstand der Eheleute ging abrupt zu Ende, als der Mann plötzlich starb. Magdalena musste sich als Tagelöhnerin durchschlagen. Mit 30 Jahren wurde sie von einem Soldaten schwanger und gebar in der Nähe von Artern am 15. Mai 1687 ein Mädchen, das auf den Namen Catharina Margaretha getauft wurde. Später kamen Mutter und Tochter bis vor die Tore Halles. In dem Ort Glaucha, heute ein Stadtteil von Halle, sammelte sich das Lumpenproletariat. In dem Städtchen wucherten Alkoholismus, Elend, Kindersterblichkeit und Kriminalität. Überall gab es bettelnde und stehlende Waisen. Als Magdalena Linck und ihre Tochter sich dort niederließen, konnten sie tiefer nicht mehr sinken.

Da kam ein ungeahnter Segen über diesen Pfuhl des Unheils. Ausgerechnet einer der führenden Vertreter einer neuen evangelischen Bewegung, des Pietismus, der 29-jährige Magister August Hermann Francke (1663-1727) wurde in Glaucha Pastor. Die Pietisten wollten im Gegensatz zu den Altlutheranern ein individuell erfahrbares Christentum und eine tätige Nächstenliebe für die Notleidenden durch Hilfe zur Selbsthilfe, besonders durch Erziehung. Unterstützt von der preußischen Regierung durfte Francke in dem Hort der Verwahrlosung seine Ideen mit Stiftungsgeldern von reichen Förderern verwirklichen. Die „Francke’schen Stiftungen“ und sind heute in aller Welt bekannt. Magdalena und Catharina Margaretha Linck hatten Glück. Pastor Francke stellte die Mutter lebenslang als Haushälterin im neuen Waisenhaus an, und die neunjährige Tochter wurde eine der ersten Waisen-Schülerinnen. Die Francke’schen Waisenhaus-Kinder erhielten eine gute theoretische sowie praxisbezogene Bildung und wurden in tiefer Gottesehrfurcht erzogen.

Als die 13-jährige Catharina Margaretha als Zögling entlassen wurde, nahm sie ein Handwerker des Tuch produzierenden Gewerbes in Halle als Lehrmagd an. Die Tuchmacherei lag in Brandenburg-Preußen im Aufwärts-Trend. Bei der Arbeit in der Tuchmacherwerkstatt waren die damals sehr weiten Frauenkleider eher hinderlich. Die kräftige Catharina trug deshalb Hosen und hatte die Haare von einer Mütze bedeckt. Nicht selten wurde sie deswegen mit einem jungen Mann verwechselt. So reifte in dem Mädchen ein Plan. Während der Pubertät hatte sie bemerkt, dass sich ihr sexuelles Begehren auf Personen des eigenen Geschlechtes richtete. Außerdem hatte sie als Frau der Unterschicht trotz ihrer guten Bildung keine wesentlichen gesellschaftlichen Chancen.

Deshalb hatte sich das junge Mädchen auf den Weg nach Calbe gemacht. In dieser Stadt, in der auch ein Mitstreiter Franckes, Oberpfarrer Johann Heinrich Hävecker tätig war, hatte Catharina gute Freunde. Obwohl die Nichteinhaltung der brandenburgisch-preußischen Kleiderordnung nicht nur in Calbe mit drastischen Strafen belegt wurde, vollzog Catharina Linck hier mit Hilfe ihrer Freunde die Verwandlung in einen stattlichen jungen Mann.

Bald danach schloss sich der neu erschaffene Jüngling einer radikalpietistischen Sekte an. Die radikalen Pietisten traten für eine Gleichstellung aller Menschen ein. Das Hauptmittel ihrer inneren Zuwendung zu Gott war die Trance. In dieser Gemeinschaft wurde Catharina Margaretha auf den phantasievollen Namen Anastasius Lagrantinus Rosenstengel getauft. Sie wurde als Mann-Frau unter Gleichgesinnten geachtet und geschätzt, später aber verstoßen, als sie im Traumzustand wiederholt gefährlich-falsche Prophezeiungen gemacht hatte.

Nun schlug sie sich, teils als Mann, teils als Frau durch, bis sie als Anastasius Rosenstengel gewalttätigen Soldatenwerbern in die Hände fiel. Rosenstengel nahm als Musketier sieben Jahre lang am Spanischen Erbfolgekrieg teil, schleppte bei den langen Fußmärschen Waffen und Gepäck und erlebte das Grauen der Schlachten. Als er nach einer misslungenen Desertion gehängt werden sollte, offenbarte er im letzten Moment sein wahres Geschlecht und – wurde begnadigt. Der Soldat Rosenstengel hatte gelernt, mittels eines gebogenen Hornes stehend zu pinkeln und mit Hilfe einer Penisattrappe die Soldatendirnen zu „beglücken“.

Schließlich fand er/sie als Mann eine Anstellung bei einem hugenottischen Strumpfwirker in Halberstadt. Nun hätte alles gut werden können, wenn sich Catharina/Anastasius nicht in ein (wahrscheinlich) gleich gesinntes Halberstädter Mädchen verliebt und dieses geheiratet hätte.

Die misstrauische Schwiegermutter durchschaute aber bald den Schwindel, fesselte Rosenstengel mit Hilfe von Nachbarinnen und entkleidete ihn. Dabei kam außer der Penisattrappe und dem Urinierhorn auch das wahre Geschlecht des „Schwiegersohnes“ ans Tageslicht. Wütend lief die Frau zu den Behörden, und es begann eine Aufsehen erregende gerichtliche Untersuchung, während der die Eheleute anderthalb Jahre lang unter schrecklichen Bedingungen getrennt in Verliesen vegetieren mussten.

Auf gleichgeschlechtliche „Unzucht“ stand 1720 in Preußen immer noch die Todesstrafe. Von der Aufklärung beeinflusste Juristen lehnten eine Hinrichtung ab, aber König Friedrich Wilhelm I. befahl in einem eigenhändigen Schreiben, dass Catharina Margareta Linck mit dem Schwert zu enthaupten und ihre Leiche ohne Grabstein zu verscharren sei. Ihre Partnerin sollte 3 Jahre im Zuchthaus bleiben und danach aus Preußen ausgewiesen werde. So geschah es.

Am 7. oder 8. November 1721 wurde die beschimpfte und gedemütigte „Linckin“ im Alter von 34 Jahren auf dem Marktplatz von Halberstadt öffentlich enthauptet. Die Spur ihrer physisch und psychisch gebrochenen Partnerin verlor sich nach dem Zuchthausaufenthalt bald.

Catharina Margaretha Linck, die in Calbe begonnen hatte, ihre lesbische Identität zu finden, war die letzte Frau in Europa, die wegen ihrer gleichgeschlechtlichen Aktivitäten hingerichtet wurde.

Literatur:

Hertel, Gustav, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Steidele, Angela, In Männerkleidern - Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721, Köln/Weimar/Wien 2004.

 

Französische Einflüsse in der Geschichte unserer Gegend

 

Erschienen unter der Überschrift "Gesellschaftlicher Fortschritt aus Frankreich" am 27.3.2006 

 

Franzosen kamen mehrere Male in unsere Gegend, und meist brachten sie das mit, was man allgemein als den gesellschaftlichen „Fortschritt“ bezeichnet.

Als es zu Beginn des 12. Jahrhunderts notwendig geworden war, die verweltlichte und stagnierende römisch-katholische Kirche von innen heraus zu erneuern, machte sich ein junger politischer Senkrechtstarter, Norbert von Xanten (um 1080 - 1134), ans Reform-Werk und entwickelte neue Ordensregeln auf der Basis der Lehren von Augustinus. 1120 gründete er in Prémontré den Orden der Prämonstratenser, der sich zunächst in Frankreich ausbreitete und ein Leben zu praktizieren versuchte, das dem der frühen Christen entsprach und durch Armut, Fleiß und Nächstenliebe geprägt war. Sein neuer Orden fand regen Zulauf, auch von Frauen. Schon 1126 wurde Norbert zum Erzbischof von Magdeburg, dem wichtigsten weltlichen und kirchlichen Vorposten im Osten des deutschen Reiches, berufen. 1129 verlegte er den Schwerpunkt des Prämonstratenserordens in dieses Gebiet mit dem Ziel der Ostkolonisation und Slawenmissionierung. 1131, also vor 875 Jahren, gründete er mit dem Vermögen eines gräflichen Spenders das zentrale Stiftskloster „Gottes Gnade“ bei Calbe, von dem aus ein Netz von immer neu gegründeten und erfolgreichen Tochterklöstern geknüpft wurde. Zu den ersten Insassen und Stiftsvorstehern in „Gottes Gnade“ gehörten einige von Norberts ehemaligen Gefährten und Mitstreitern aus Frankreich, wo damals ein großer Kult um Karl den Großen und seinen Getreuen Roland in Mode war. Mit den französischen Prämonstratensern kam zu uns nicht nur eine neue Auffassung von den Aufgaben der Christen, sondern auch die Ideologie von dem untadeligen kaiserlichen Ritter, die zwei Jahrhunderte später von Karl IV. neu belebt wurde und in der Aufstellung von Rolandfiguren vorwiegend im norddeutschen Raum gipfelte. Demnach geht auch die Aufstellung des Rolands in Calbe, der vor 625 Jahren erstmals erwähnt wurde, in gewissem Sinne auf französische Ideen zurück.

6 Jahrhunderte nach den prämonstratensischen „Pionieren“ traten in unserer Gegend wiederum Franzosen als gesellschaftliche Schrittmacher in Erscheinung. Im katholischen Frankreich wurden die calvinistisch-protestantischen Hugenotten seit Beginn der Reformation brutal verfolgt. Als durch das Edikt von Fontainebleau des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. 1685 die französischen reformierten Protestanten erneut hart bedrängt wurden, erließ der Große Kurfürst kurz danach in Preußen das Potsdamer Toleranzedikt, in dem allen preußischen Untertanen Glaubensfreiheit und fremden Einwanderern mit wichtigen Berufen eine Reihe von Fördermaßnahmen und Vergünstigungen zugesichert wurden. Bald darauf kamen 20 000 hugenottische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und der Pfalz nach Preußen, die man u. a. auch in Calbe ansiedelte. Die französischen Auswanderer brachten das entsprechende technische Know-how – besonders im textilen Bereich - mit, und nicht nur das, sie übermittelten auch mit Tischsitten, Wohnkultur, Kosmetik, Musik, Literatur, Kochkunst und neuen Speisen eine verfeinerte Lebensart, welche die Preußen noch nicht kannten, aber bald übernahmen.

1709 trafen die ersten französischen Refugiés (Flüchtlinge) in Calbe ein. 1732 lebten 19 französische und 44 pfälzische Familien in der Stadt. Diese ersten Aussiedler der Neuzeit in unserer Heimat wurden in einer eigenen "Kolonie" am inzwischen zugeschütteten nördlichen Stadtgraben (der heutigen Grabenstraße, früher "Koloniestraße") angesiedelt und bestimmten fortan die Geschicke der Stadt maßgeblich mit. Die Neusiedler waren hier vorwiegend als Tuchmacher tätig. Französische Färber, Strumpfwirker oder Walker mit ihren neuen Herstellungsmethoden trugen wesentlich zur Steigerung der Tuchproduktion in Calbe bei. Die Einwanderer verschmolzen bald mit der calbischen "Ur"bevölkerung, manchmal trifft man noch auf ihre (oftmals eingedeutschten) Familiennamen.

Wiederum fast hundert Jahre nach den ersten hugenottischen Aussiedlern tauchten u. a. vor 200 Jahren erneut Franzosen in Calbe und den anderen Städten und Dörfer unserer Gegend auf. Diesmal wurden sie aber als Unterdrücker empfunden, weil die Soldaten Napoleon Bonapartes als Besatzer kamen. Die tragische Zwiespältigkeit dieser Zeit (1806 bis 1813), in der unser Gebiet seit 1808 zum französisch verwalteten Königreich Westfalen gehörte, liegt darin, dass die Menschen der besetzten Territorien wegen der erdrückenden Lasten gar nicht die Vorzüge des neuen bürgerlichen Gesellschaftssystems, das die Franzosen mitbrachten, erkennen und genießen konnten. Als die französischen Soldaten nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 in unser Gebiet einrückten, mussten die Calbenser Kriegssteuern und Zwangsanleihen von mehreren tausend Talern - heute eine Millionensumme -  sowie  Naturalien im Wert von 4300 Talern aufbringen. Bürgern, die nicht zahlten, versteigerten die Franzosen Hab und Gut zwangsweise. Viele junge Männer aus unserem Gebiet wurden gezwungen, in der Armee Napoleons zu dienen. Von den 43 Calbensern des Jahrganges 1789 aber, die 1809 eingezogen werden sollten, waren 23 unauffindbar. Bei all den Bedrückungen, die die französischen Besatzer über unsere Heimat brachten, sollte man aber nicht vergessen, dass mit der „Westfalenzeit“ die Bürger auch mit den Errungenschaften eines jungen bürgerlichen Staates in Berührung kamen. Die Verwaltung wurde verbessert, die Justiz auf das bürgerliche Gesetzbuch umgestellt, die Freiheit des Individuums und der Schutz des bürgerlichen Eigentums garantiert, die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden eingeführt, und die Zünfte und Gilden als Hemmschuhe der kapitalistischen Wirtschaft sowie die feudalen Untertänigkeitsverhältnisse wurden abgeschafft. Dieser frische Wind interessierte unsere bis an die Leidensgrenze ausgeplünderten Vorfahren verständlicherweise aber wenig. Als nach der Abschüttelung der napoleonischen Besatzung 1813/14 und nach dem Wiener Kongress 1815 Calbe wieder preußisch wurde, blieb jedoch der bürgerliche Impetus, der von den französischen Okkupanten ausgegangen war, erhalten, die reformerische Umgestaltung Preußens mit bürgerlichen Zügen war in Gang gekommen.

 

 

Erzbischof Albrecht IV. und die Reformation im Magdeburger Land

 

Erschienen unter der Überschrift "Erzbischof Albrecht IV. und die Reformation im Magdeburger Land sowie in Calbe" am 10.4.2006 


 

Der Artikel von Thomas Linßner in der „Schönebecker Volksstimme“ vom 24. 3. 2006 über historische Gedenksteine aus dem ehemaligen Schloss von Calbe soll Anlass sein, etwas mehr über die Beziehungen des bedeutenden Politikers und Kunstmäzens Erzbischof Albrecht IV. zu Calbe und zum Magdeburger Land zu veröffentlichen.
Der Markgraf von Brandenburg, Albrecht II., war mit 23 Jahren Erzbischof von Magdeburg und ein Jahr später, kurz nachdem er die Priesterweihe erhalten hatte, Erzbischof von Mainz und damit Kurfürst geworden. Nun trug er den Namen Albrecht IV. Das genügte dem nach dem Kaiser mächtigsten Mann im Reich jedoch nicht. 1518 musste er auch noch Kardinal werden. Natürlich gab es solche Ämter und das dazu gehörige Leben als Renaissance-Fürst nicht umsonst. Albrecht lieh sich dafür 30 000 Gulden bei dem Verlags- und Bankunternehmer Jacob Fugger, heute eine Milliardensumme, die er durch Forcierung des päpstlichen Ablasshandels, an dem er gewinnbeteiligt war, und durch erhöhte Steuern wieder einzutreiben begann. Das Ablassunwesen des von ihm engagierten Dominikanermönchs Johannes Tetzel führte schließlich zu den in 95 Thesen zusammengefassten Gewissensbissen des Augustinermönchs Dr. Martin Luther. Der Wittenberger Universitätsprofessor schickte am 31. Oktober 1517 seine Thesen zuerst an seinen unmittelbaren Vorgesetzten, Erzbischof Albrecht, ins Schloss nach Calbe, wo sich der Fürst wegen der Magdeburger Unruhen nun häufiger aufhielt. Er erhielt eine so drastische Antwort, dass der bestimmt nicht zimperliche Luther empört war. Übrigens ist das schöne Bild von dem berühmten Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirchen-Tür wahrscheinlich eine Legende, die nach Luthers Tod von Philipp Melanchthon in die Welt gesetzt wurde.


Nachdem sich Magdeburg zu einer Hochburg der protestantischen Bewegung entwickelt hatte und sich Kleriker ebenso wie Bürger sogar im Magdeburger Dom zu Luther bekannten, wurde es für Albrecht immer brenzliger. Als auf Befehl des unbeliebten Erzbischofs Verteiler von lutherischen Flugschriften verhaftet worden waren, wurde der Zorn der Volksmassen so bedrohlich, dass die Verhafteten wieder freigelassen werden mussten. Immer mehr Gemeinden wählten sich lutherische Pfarrer, und Albrecht bat den Papst darum, Magdeburg in den Bann zu tun. Das geschah nicht, und der Kardinal stellte in der Stadt mit Waffengewalt den Ausnahmezustand her.
Erzbischof Albrecht hatte, als er sich 1524 aus Magdeburg wegen der immer heftigeren Angriffe der Bürgerschaft und des sich nähernden Bauernheeres Thomas Müntzers nach Halle aus dem Staub machte, mit Hilfe des calbischen Amtmanns Simon Hake, des Bürgermeisters Hans Hermann und einiger anderer Ratsmitglieder eine Glocke der großen Gottesgnadener Stiftskirche demontieren und auf einem Ochsenwagen nach Halle in sein neues Stift abtransportieren lassen.
Die Lutheranhänger bemächtigten sich sofort des Stoffes und verspotteten den flüchtigen Kardinal in dem „Lied vom Glockendieb und Ochsentreiber“. Die hier zurück bleibenden bürgerlichen und ritterlichen Helfershelfer bekamen in dem Spottlied auch gehörig „ihr Fett“. Wenn einer von ihnen die Straße betrat, schallte ihm das Lied besonders laut in die Ohren, ein unerhörter Vorgang für die selbstherrlichen ritterlichen Beamten und eitlen Ratsmitglieder.
Die Calbenser waren empört über die Mitwirkung des Bürgermeisters und einiger Ratsmitglieder, wobei es wohl weniger um den Raub einer Klosterglocke als vielmehr um ein notwendig gewordenes Aufsprengen Jahrhunderte alter sozialer Strukturen ging. Im Ratskeller und in den Schenken von Calbe rief man zum Sturz des alten Rates auf. Die Anführer Lorenz Böddeker und Hans Hubold wollten die „Verräter“ sogar an den Galgen bringen. Am 18. September 1524 wurden vor der katholischen Messe der Bürgermeister sowie die Herren Georg Hermann und Hans Philipps verhaftet und inhaftiert. Mit bewaffneter Hilfe des erzbischöflichen Statthalters Graf Botho von Stolberg gelang es, die Gefangenen zu befreien. Nun wurden die Anführer des Aufstandes und andere Beteiligte gefangen gesetzt. Die gesamte Stadt wurde zu einer Strafe verurteilt, deren Maß der Kardinal bei seiner Rückkehr festlegen sollte. Das Ganze verlief jedoch im Sande, denn der Erzbischof vermied klugerweise alles, was den Volkszorn erneut anstacheln konnte. Später ließ er die Glocke aus Halle wieder nach Gottesgnaden zurückbringen.
1541 fand unter Albrechts Vorsitz im Schloss von Calbe ein sehr bedeutender ständischer Landtag statt, der als Weichensteller für die konfessionelle Zukunft unserer Region anzusehen ist. Möglicherweise gegen die Zusage, seine Schulden zu tilgen, erhielten die Menschen des Magdeburger Landes vom Erzbischof die Erlaubnis, sich zum lutherischen Glauben bekennen zu dürfen. Nun brachen alle Dämme. 1542 wurde auch Calbe offiziell evangelisch. Albrecht IV., der erste Hohenzollern-Regent des Magdeburger Territoriums, zog sich bald darauf ins katholische Mainz zurück, wo er 1545 fünfundfünfzigjährig starb.

Ausgewählte Literatur und Quellen:
Gustav Hertel, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.
Sebastian Langhans, Historia, was im Anfang der Lehre des Heiligen Evangelii vom Anfange des Jahres 1524 biß 1525 auf Blasii in allen dreien Städten zu Magdeburgs sich begeben, in: "Magdeburger Geschichtsblätter" Bd. 28, S.290 ff. und Chroniken deutscher Städte, Bd. 27, S. 141.
Adolf Reccius, Chronik der Heimat (Urkundliche Nachrichten über die Geschichte der Kreisstadt Calbe und ihrer näheren Umgebung), Calbe/Saale 1936.
 

 

 

 

Schwerer Start im Stiftskloster „Gottes Gnade“ vor 875 Jahren

 

Erschienen am 24.4.2006 unter der Überschrift "Stiftskloster Gottes Gnade startete mit Hindernissen"

 

Der charismatische, aber auch heftig angefeindete Reformer und Begründer des Prämonstratenserordens, Norbert von Xanten, war 1126 im Alter von ca. 45 Jahren Erzbischof von Magdeburg geworden. König Lothar III. hatte ihn mit starkem Nachdruck gegen den Widerstand des Magdeburger Domkapitels auf diesen wichtigen Posten im Ost-Grenzland des damaligen deutschen Reichsverbandes lanciert. Nun suchte Norbert nach einer geeigneten Stelle für ein zentrales Stiftskloster, von dem aus dann nach und nach der Bau weiterer Tochterklöster im Osten initiiert und betrieben werden konnte.

Solch eine Örtlichkeit, nur wenige Reiterstunden von der Magdeburger Zentrale entfernt, unmittelbar am Lieblings-Sommersitz der Magdeburger Erzbischöfe, stellte eine Erhöhung am östlichen Ufer der Saale gegenüber der Stadt Calbe dar. Der Hügel war umgeben von morastigem Land, und nur wenige slawische Bauern, die dem Erzstift Magdeburg gehörten, lebten in dem waldreichen Gebiet. Hier wollte Norbert sein prämonstratensisches Musterstift errichten. Der Hügel lag schon in slawischem Siedlungsraum, befand sich aber kaum 400 Meter von einer im Ernstfalle wehrhaften deutschen Stadt entfernt.

Nun suchte Norbert nach einem schwerreichen Geldgeber, der sich als Stifter einen Namen machen wollte. Den fand er nach langen Überredungsversuchen in dem etwa 30jährigen unverheirateten Grafen Otto von Reveningen (Röblingen) und Krottorf. In der Tatsache, dass es ihm „mit Engelszungen“ schließlich gelungen war, den Grafen zur Überschreibung von dessen nahezu gesamten Besitztümern an die Magdeburger Zentrale zu überreden, sah Norbert einen göttlichen Gnadenerweis und nannte das zu gründende Stift „Gottes Gnade“ (Gratia Dei). "1131 legten der verehrungswürdige Erzbischof und jener Edle mit eigenen Händen die ersten Steine zum Grund des Klosters“, heißt es in der Chronik von Gratia Dei.

In Magdeburg legte Otto das grauweiße, wollene Ordensgewand an und ließ sich zum Kanoniker (Stiftsherrn) weihen. Nachdem die ersten Bauten von „Gottes Gnade“ fertig waren, zogen 22 Kanoniker - unter ihnen auch Otto und viele ehemalige Gefährten Norberts aus Frankreich -, 19 Laienbrüder (Konversen) und 17 weibliche Konversinnen dort ein.

Diese Schwestern mussten als "Eingeschlossene" (inclusae) leben, d. h., sie waren in einem gefängnisähnlichen Trakt - rigoros abgeschottet - untergebracht. Ihnen war es strengstens verboten, einen Mann auch nur zu sehen. Das galt auch für Vater oder Bruder. Trotzdem war in der Anfangszeit der Prämonstratenser-Bewegung der Zuspruch von Frauen besonders stark. Wohl wegen des Drucks der sexuellen Versuchung wurden die Gottesgnadener Schwestern schon kurze Zeit darauf in ein eigenes Kloster nach Jüterbog gebracht. Der neue Orden und insbesondere sein Stiftskloster waren Zufluchtsstätten für junge, von der Stagnation der etablierten Kirche enttäuschte Menschen beiderlei Geschlechts. Außer dem Grafen als ranghöchstem Edelmann fand man unter den Pionieren niedrige Adlige - ein berühmter Ritter und ein Akademiker waren darunter -, aber auch Menschen bürgerlicher Herkunft.

Als erste Stiftsvorsteher (Pröpste) setzte Norbert junge Anhänger aus der „französischen“ Zeit ein. Der erste hieß Emelrich (Emil). Diesen beorderte aber der Papst schon nach kurzer Zeit nach Palästina, wo er im muslimischen Land unter ständiger Bedrohung ein prämonstratensisches Kloster gründete, als Erzbischof eingesetzt und nach seinem Tode heilig gesprochen wurde. Als nächsten Gottesgnadener Propst berief der schwerkranke Norbert kurz vor seinem Tod seinen Lieblings-Schüler Evermod. Doch der junge Mann wollte besonders gewissenhaft sein und zwang nicht nur die Laienbrüder, sondern auch die vornehmeren Stiftsherren zu strengen Bußübungen, zu harter Arbeit und Hunger. Da geschah etwas Unglaubliches: Sowohl Konversen als auch Kanoniker revoltierten gegen Evermods Regime. Was hoffnungsvoll begonnen hatte, drohte nach Norberts Tod zu scheitern. Da schaltete sich das Domkapitel ein und versetzte Evermod als Propst an das Magdeburger Kloster „Unser Lieben Frauen“. Später bekehrte er als Bischof von Ratzeburg viele Slawen und wurde nach seinem Tod als Heiliger verehrt.

Als auch der nächste Propst im gleichen Fahrwasser weiter „regierte“, nahm sogar der Stifter Otto Schande und Ehrverlust auf sich und flüchtete frustriert „zurück in die Welt“. Zwei der Pioniere hatten inzwischen Selbstmord begangen. Erst nach mehreren neuen Stiftsvorstehern, die nach diesem Skandal eingesetzt wurden, ging es mit es mit der inneren Festigung von „Gratia Dei“ allmählich aufwärts.

Man kann vermuten, dass auch politische Kontroversen hinter den innerstiftischen Auseinandersetzungen standen. Es war schließlich die Phase der großen Machtkämpfe in Deutschland, die besonders in unserem Gebiet ausgetragen wurden, es war die Zeit des Welfen-Staufer-Konfliktes. Die treuen "Norbertiner" waren wie ihr Ordensgründer welfisch und ein Großteil des Stifts-Konvents staufisch eingestellt. Unter der Herrschaft staufischer Könige und staufischer Erzbischöfe in Magdeburg und nach der Einsetzung von deren Anhängern als Gottesgnadener Pröpste kehrten schließlich Ruhe und friedliches Gedeihen im Stiftskloster ein.

 

Literatur und Quellen:

Chronicon Gratiae Dei, in: Franz Winter, Die Prämonstratenser des zwölften Jahrhunderts", Berlin 1865.

Johann Georg Leuckfeld, Antiquitates Praemonstratenses oder Historische Nachricht von zweyen ehmals berühmten Praemonstratenser-Clöstern S. Marien in Magdeburg, und Gottes=Gnade bey Calbe, Magdeburg/Leipzig 1721.

 

 

 

Alte Fruchtbarkeits- und Frauenkultplätze bei Calbe

 

1. Wie aus guten Naturgöttinnen böse Hexen wurden – der „Mägdesprung“

 

Erschienen unter der Überschrift "Der Mägdesprung - Wie aus richtig guten Naturgöttinnen ganz böse Hexen wurden" am 8.5.2006 

 

Seit mehreren Jahrhunderten ist die Existenz zweier sehr alter Örtlichkeiten am Stadtrand Calbes quellenmäßig belegt, des Mägdesprunges im Norden und der Wunderburg im Süden. Beide sind heute noch als Flurnamen präsent. Solche Mägdesprünge und Wunderburgen, die auch unter anderen Namen bekannt sind, gibt es in ganz Europa. An beiden calbischen Örtlichkeiten lassen sich bis ins 17. Jahrhundert eine Kirche bzw. eine Ruine, die wahrscheinlich auch auf eine Kapelle hinweist, dokumentieren. Es entsprach einer Praxis der frühen römisch-katholischen Kirche, vorchristliche Kultplätze umzuweihen und für die eigenen Zwecke zu übernehmen. Die Kirche oder Kapelle am heidnischen Kultort nahm quasi die alte magische Kraft im Sinne des Christentums auf.

Doch zunächst zum s. g. Mägdesprung, der Anhöhe am nördlichen Ende der jetzigen „Grünen Lunge“ in Calbe. In vielen deutschen Orten und Landschaften stoßen wir auf Namen wie: Frauensteine, Mädchensteine, Jungfernsteine, Meseberg, Mesensprung, Mädchensprung, Mägdesprung, Mädelsteg, Mädchenburg, Mädchenlucken, Frauenlucken, Frauenhöhle usw. („Mese“ oder „Möse“ ist ein alter Ausdruck für die Vulva, das weibliche Geschlechtsteil.) Bei allen diesen Orten handelte es sich um frühzeitliche Fruchtbarkeits- und Frauen-Kultplätze, auf die wir besonders konzentriert im Taunus, Harz und Alpenraum, aber auch an der Ostsee treffen.

Der Mägdesprung von Calbe, der bis heute so heißt, wurde als Flurname erstmals 1446 erwähnt, als Erzbischof Friedrich III. einige Leute mit einer Breite unter dem "Meigdesprunge vor Calbe" belehnte. 1555 und 1566 hatte Hans von Bockwitz eine Wiese „unterm Mesesprunge“ zum Lehen.

Mägdesprung Calbe um 1850

Mägde- bzw. Mesensprünge stehen mit einer Verehrung der drei Erdmütter, auch Beten genannt, im Zusammenhang, wobei die Zahl drei als Zeichen der Vollkommenheit galt. Bei vielen europäischen Völkern traten die drei Göttinnen als Triade von Großmutter, Mutter und Kind auf. Deren Symbolik begegnet uns u. a. noch in Märchen wie „Frau Holle“ und „Schneewittchen“, im s. g. Mondkalender und den Rauhnacht-Bräuchen. An den Frauen- oder Mägdesprüngen fanden Opferhandlungen für einen weiblich geprägten Fruchtbarkeitskult und auch Riten zur Einführung junger Mädchen in die Welt der Frauen statt. Angebetet wurden an diesen Plätzen die drei Erdgöttinnen und die heilige Vulva als Symbol des Ursprungs neuen Lebens.

So vollzog man diese Zeremonien über viele Jahrhunderte hinweg. In Zeiten politischer, sozialer und ökonomischer Krisen jedoch konnte sich die verzweifelte Wut der Bevölkerung gegen die Anhänger geheimnisvoller Kulte richten. Und dann wurden aus den Priesterinnen der warmherzigen Mütter, die nach dem ursprünglichen Volksglauben Wohlstand, Überfluss und Glück brachten, böse Hexen.

Der Wandel hängt u. a. zusammen mit dem Ende einer Warmzeit, die mittelalterliches Optimum genannt wird und die beispielsweise zur Besiedlung der grönländischen Küste durch die Wikinger führte. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts brachen nicht nur kalte, verregnete und verhagelte Sommer und damit Hungerkatastrophen über die verängstigten Menschen herein, sondern auch bislang hier unbekannte Pandemien wie der „Schwarze Tod“, Sturmfluten an der Küste und Erdbeben in Mittel- und Südosteuropa. Die Zeiten des Wohlstandes und der Wohlstands-Erdmütter waren augenscheinlich vorüber. In den Vorstellungen der Menschen waren wohl die Priesterinnen dieser Gottheiten neuerdings darauf aus, ihnen Schaden zuzufügen. Nun wurden sie Schadenmacher, lateinisch „malefici“, genannt. Im Volksmund aber hießen sie nach den auf dem Zaun sitzenden bösen Kobolden „Hagzissen“, woraus das Kurzwort „Hexen“ wurde. Und auf einmal sah man z. B. in dem Priesterinnen-Tanzplatz über Thale, auf dem u. a. in der Nacht vor dem 1. Mai, dem Beginn des keltischen Sommerhalbjahres, die Feuer loderten, einen Tanzplatz von Hexen.

Auch in Calbe wurde 1381 eine „Bete“ Peckers verbrannt. Die Hinrichtungsstätte mit den „Brandsäulen“ hatte man bezeichnenderweise direkt neben dem Mägdesprung errichtet, wo sie bis zum Ende des 17. Jahrhunderts blieb.

Eine Schwester aus dem Armenstift des „Heiligen Geistes“ namens Ursula Wurm, die ebenfalls der Hexerei beschuldigt wurde, muss noch 1634 von dem Erdmütter-Kult gewusst haben, denn unter der Folter phantasierte sie, ein Kraut benutzt zu haben, welches „Anbetica“ hieß. Dieser Begriff geht offensichtlich auf die Drei-Göttinnen-Großmutter „An-Bet“ zurück. Vielleicht hatte die Gefolterte von dem Betenkult gehört, vielleicht praktizierte sie ihn sogar noch insgeheim mit anderen Schwestern, möglicherweise auch nur für den „Hausgebrauch“, um ihren Mann, den Spitalvorsteher, von einer heimlichen Geliebten „loszuzaubern“, denn dergleichen hatte sie beim peinlichen Verhör „gestanden“.

Die Bedeutung des alten Kultplatzes war den Menschen in der frühen Neuzeit nicht mehr geläufig, als eine erklärende Sage um den Mägdesprung entstand. Dabei ist auffällig, dass alle Mägdesprung-Sagen vom Rügener Rugard bis zur Harzer Rosstrappe ein gleiches Grundmotiv haben: das verfolgte Mädchen, das durch einen gewaltigen Sprung seinem Peiniger entkommt. In Calbe wurde dieses Motiv mit einem Grafen und der Gründung des Stiftes „Gottes Gnade“ verbunden. Im 19. Jahrhundert, als das Bürgertum „zurück zur Natur“ kehrte, wurde der Mägdesprung von Calbe ein beliebter Ausflugsort.

 

Literatur:

Heide Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros, München 1997.

Johann Heinrich Hävecker, Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Acken und Wantzleben..., Halberstadt 1720.

Gustav Hertel, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Sophie Lange, Wo Göttinnen das Land beschützen, Alf/Mosel 2003.

Adolf Reccius, Chronik der Heimat, Calbe/Saale 1936.

Martina Schäfer, Die magischen Stätten der Frauen, München 2000.

 

2. Erweckungs- und Frühlingszeremonien auf der „Wunderburg“

 

Erschienen unter der Überschrift "Auf der Wunderburg bei Calbe ließen Mädchen die Sonne auferstehen" am 15.5.2006 

 

"Felsenkeller zur Wunderburg" um 1900

Am südlichen Stadtrand Calbes, jetzt die Siedlung „Am Weinberg“, befand sich die s. g. Wunderburg. Wunder- oder Trojaburgen in Form von Spiralgängen in der Landschaft sollten symbolisch der Erweckung und Auferstehung der Sonne im Frühjahr dienen. Auch sie waren weiblichkeitsgeprägt. Solche kultischen Labyrinthe hießen in Europa: Trojaburg, Trelleborg, Trojeborg, Walls of Troy, Schnecke, Wurm, Jungferntanz, Labyrinth, Schalkenburg, Windelbahn (von Gewinde), Wunderburg, Jerusalemweg u. ä.

Die Troja- oder Wunderburgen bestanden bei uns nicht aus aneinander gereihten großen Steinen wie in Skandinavien, sondern aus Spiralbahnen, die aus dem Rasen gestochen wurden. Die Form der Spirale ist auf die Bahn der Sonne mit ihren im Laufe des Jahres immer enger werdenden Tagkreisen zurückzuführen. In der Mitte des Schlangenganges saß eine Jungfrau als Sonnensymbol, die sich schlafend stellte und von einem sich in Tanzschritten unter Musikklängen nähernden jungen Mann wach geküsst wurde. Zum Dank erhielt er von ihr als Fruchtbarkeitssymbol eine Gans oder ein Ei, und beide tanzten wieder zurück zum Ausgang. In Verbindung mit diesem Erweckungs-Ritus standen u. a. die Dornröschen- und die Nibelungen-Sage.

Die Wunderburg von Calbe war höchstwahrscheinlich eine Rasen-Spirale, die jedoch schnell verwitterte, sobald sie nicht mehr erneuert wurde. 1446 wurde sie erstmalig erwähnt, wobei man vermuten muss, dass sie schon lange existiert haben wird, denn diese Rituale waren bereits über Jahrhunderte gebräuchlich und weit verbreitet. Auffällig ist die enge räumliche Verbindung zu einer der wenigen hier vorhandenen  Dorfkirchen, der Kirche der verschwundenen Siedlung Hohendorf. Es ist anzunehmen, dass auch dieses Gotteshaus erbaut wurde, um aus dem alten starken Erweckungsglauben neue Kraft zu schöpfen. Zur Zeit der Reformation verbot man den vermeintlichen  katholischen Unfug und Aberglauben. Aber wie das so ist: So einfach war ein über Jahrhunderte gewachsener Volksglaube auch durch Reformation, Pietismus und Aufklärung nicht auszurotten. Noch 1676 wurden Stadtbewohner dabei erwischt, dass sie Ostern auf der Wunderburg feierten. Ein Schneidermeister war der Anführer, und mit ihm waren Soldaten und viel "Weibsvolk" gewesen. Der Schneider musste wegen der "verübten Üppigkeit" 5 Taler Strafe, eine damals empfindliche Summe, zahlen. Danach wurde von dem Brauch des Begehens oder des Tanzes in dem Wunderkreis der Hohendorfer Feldmark nichts mehr berichtet. Aus dem anglikanischen England ist bekannt, dass dort im 16. und 17. Jahrhundert die "Troja-Labyrinthe" einfach untergepflügt wurden. So wird es wohl auch in der Hohndorfer Feldmark gewesen sein. Der uralte Brauch und die Erinnerung an ihn gingen verloren, nicht aber der Begriff "Wunderburg", auch wenn er nur noch als Flurname weiter existierte. Als in Preußen das große Maulbeerbaum-Programm Friedrichs II. lief, verpachtete die Stadt Calbe 1771 die städtische "Maulbeerplantage auf der Wunderburg" an einen Gärtner. Nach dem Scheitern des Anbaus von Maulbeerpflanzen setzte man Weinstöcke, weshalb die Gegend später „Am Weinberg“ hieß.

In sehr wenigen deutschen Gegenden hatte der Brauch des österlichen und pfingstlichen Wunderburgenbegehens bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts überlebt. Auf dem Hausberg bei Eberswalde bekam der Junge, der zu Ostern am schnellsten die Wunderburg durchlief, Ostereier geschenkt. Die Rasen-Wunderburg in Steigra bei Querfurt wurde jedes Jahr zu Ostern von Konfirmanden neu ausgestochen, bevor diese in die kirchliche Gemeinde aufgenommen wurden. In Kaufbeuren feierten alle Einwohner das "Tänzelfest" in der Rasenspirale, und im pommerschen Stolp (heute das polnisch-kaschubische Slupsk) wurde der Tanz auf der "Windelbahn" mit großem Aufwand gefeiert.

Nicht nur in Märchen und Sagen, sondern auch in bestimmten Gewohnheiten, wo wir das am wenigsten vermuten, leben die archaischen "Wunderburgen" weiter: in Kinderspielen und im Sprachgebrauch. Wir sagen z. B. heute noch, dass wir das Oster- oder Pfingstfest "begehen", ohne zu wissen, dass damit das Abschreiten der Schlangenbahn in einer Wunderburg gemeint war. Kinder malen oft Spiralen ("Schneckengehäuse"), in Kästchen unterteilt, auf Wege und hopsen sie dann in einer vorgeschriebenen Schrittfolge ab. Das ist das Weiterleben der alten rituellen Tanzschritte in einer Wunderburg. Im 16. Jahrhundert, als die "heidnischen" Labyrinthe verboten wurden, kam ein Würfelspiel auf, das bald sehr beliebt wurde und heute noch von Kindern und auch Erwachsenen gern gespielt wird: das Gänsespiel. Auf einer spiralförmigen Bahn müssen die Spieler die Abenteuer eines Gänselebens durchstehen. Die in alten Zeiten als heilig verehrte Gans  tritt uns hier wiederum  als Fruchtbarkeits- und Frühjahrssymbol entgegen. J. W. v. Goethe hat diesem Spiel mit seinem Gedicht "Das Leben ist ein Gänsespiel" ein literarisches Denkmal gesetzt. Auch die Erweckungs- und Erlösungsspiele der Kinder "Mariechen saß auf einem Stein" oder "Dornröschen war ein schönes Kind" gehen auf den Wunderburgen-Kult zurück.

Immer mehr Gemeinden in Deutschland, inzwischen sind es 132, pflegen nach einer langen Zeit des Vergessenseins wieder die Wunderburgen-Tradition.

Vielleicht könnte man auch in Calbe diesen alten Brauch neu aufleben lassen und Frühlingsfeste mit relativ leicht auszuhebenden Rasen-Spiralen in dem archaischen Gelände "begehen".

 

Literatur:

wie zum Teil 1, zusätzlich:

Gernot Candolini, Die Faszination der Labyrinthe, München 2004.

John Kraft, Die Göttin im Labyrinth, Bern 1997.

Peter Hofacker/Mathias Wolf, Labyrinthe - Ursymbole des Glaubens, Freiburg 2002.

 

 

 

Die Stadtkirche St. Stephani in Calbe

 

Erschienen am 6.6.2006 unter der Überschrift "Ein Mann mit Kugelbauch ziert die Stephani-Kirche der Saalestadt"

 

Von wo man sich auch Calbe nähert, unweigerlich hat man die Stadtkirche zuerst im Blick. So wurde sie diskret zum sanften Wahrzeichen der Stadt an der Saale. Ohne Zweifel gehört die St.-Stephani-Kirche, wenn auch in anderen Formen, zu den ältesten Bauwerken Calbes.

Missionskirchen – meist aus Holz -, die dem christlichen Märtyrer Stephan(us) geweiht waren, wurden in den zwanziger Jahren des 9. Jahrhunderts durch den Halberstädter Bischof Hildegrim in unserer Gegend gegründet. So liegt es nahe, die Errichtung unserer Stephanskirche für die Zeit um 820 anzunehmen, was jedoch nicht durch Urkunden oder archäologische Befunde belegt werden kann. Gesichert erscheint dagegen die These, dass die St.-Stephani-Kirche als eine romanische Sandstein-Basilika im 10. oder 11. Jahrhundert errichtet wurde, nachdem Kaiser Otto I. den Königshof Calbe dem von ihm gegründeten Erzbistum Magdeburg übertragen hatte und die „Curia an der Saale“ zum Lieblingssommersitz der Erzbischöfe aufgestiegen war. Reste dieser Basilika kamen bei Renovierungsarbeiten zutage, wobei die Breite der alten Kirche etwa dem heutigen Chorraum entsprach. In der Länge erreichte der erzbischöfliche Repräsentationsbau ca. 30 Meter. Brandspuren an den aufgefundenen Mauerresten legen den Schluss nahe, dass die Sandstein-Kirche bei einer Feuersbrunst, vielleicht während der Welfen-Staufer-Kriege, in denen Calbe dreimal in Schutt und Asche sank, zerstört wurde.

Der große wirtschaftliche Aufschwung unserer Stadt im 12. Jahrhundert führte wohl auch zu dem Projekt einer doppelt so großen gotischen Stephanskirche. Die Fundamente und unteren Teile des Turmhauses, wie wir es heute sehen, gehen auf diese Zeit zurück.

Nach verschiedenen Zwischenstadien einer früh- und hochgotischen Basilika hatte man im 15. Jahrhundert mit dem Bau einer spätgotischen Hallenkirche begonnen, die 1495 fertiggestellt wurde. Die gewachsene Bevölkerungszahl machte es in den Städten notwendig, die Gotteshäuser mit mehr Raum für die Gemeinde auszustatten. Auch die Akustik war in einer Halle besser als im engen Mittelschiff einer Basilika. Die Hallenkirchen atmeten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Geist der sich bereits andeutenden sozial-strukturellen und politischen Veränderungen, besonders der bevorstehenden Reformation.

Gerade das Äußere unserer St.-Stephani-Kirche spiegelte das Bewusstsein beim Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit wider. So genannte blinde Wasserspeier stellten nicht nur Dämonen der bösen Außenwelt, sondern auch zeitgenössische „Typen“, sogar mit satirischen Anzüglichkeiten, dar. Da sind skurrile Gestalten zu sehen, z. B. ein übersättigter Mensch, der seinen Kugelbach festhält, ein anderer, der sich verschämt die Hand vor den Mund hält, vielleicht, weil er sich das Lachen nicht verkneifen kann, ein „heidnischer Wilder“ mit Bezug auf das Zeitalter der großen geografischen Entdeckungen, mehrere Klosterinsassen und ein Jude in einer boshaften Karikatur, ein Hinweis auf die Vertreibung der Juden aus dem gesamten Erzbistum 1493 durch den Magdeburger Erzbischof Ernst von Sachsen-Wettin.

Leider sind die kleinen Sandsteinfiguren an den Südportalen wegen Verwitterung nicht mehr richtig zu erkennen. Sie erzählen Geschichten, wie man von der Unwissenheit zur Weisheit gelangt und dass man mit dem Teufel keinen Bund eingehen soll, weil man sonst von ihm beherrscht wird. Dahinter steckt wohl die um 1500 allgemein bekannte Faust-Sage.

Wrangel-Kapelle

Unter und zwischen den Fenstern hatten die Baumeister viel Platz frei gelassen, der für die damals weit verbreiteten Nebenaltäre zum Lesen der einträglichen Seelenmessen vorgesehen war. Als 1542 in der Stadtkirche St. Stephani der erste evangelische Gottesdienst in Calbe gelesen wurde und die Bürger sich von nun an zum Luthertum bekannten, fielen beinahe alle Seitenaltäre der Vernichtung anheim. Später stellte man an ihrer Stelle für die einflussreichsten Bürger der Stadt Emporen und hölzerne Stübchen auf, die aber 1866 wieder verschwanden. Die Kanzel und der Taufstein im Renaissance-Stil stammen von 1561/62. Dem Pfarrer und Sprachgelehrten Conrad Lemmer und einigen vermögenden Bürgern ist es zu verdanken, dass nach den Verwüstungen im Dreißigjährigen Krieg die Stadtkirche in den 1650-er Jahren restauriert und im Barockstil ausgestattet werden konnte. Eine hohe Altartafel mit Figuren von Gottfried Gigas (Riese), der auch den barocken hölzernen Roland geschnitzt hatte, wurde aufgestellt, Kanzel und Taufstein erhielten Ausschmückungen. Nur wenige der Altar-Figuren sind erhalten geblieben; eine konnte restauriert werden, die anderen sowie Gemälde und Grabsteine warten auf ihre fachgerechte Erneuerung.

Aktuell liegt eine dringliche Aufgabe vor: die Sanierung des Turmhauses, nachdem es mehrere Jahrhunderte Wind und Wetter getrotzt hat. Damit die Arbeiten zügig voran gehen können, wird noch viel Geld benötigt. Kleinere und größere Spenden werden dankbar entgegengenommen. Die Erhaltung des 500 Jahre (- und in Teilen sogar tausend Jahre -) alten Kleinods schlichter mittelalterlicher Baukunst liegt sicherlich allen Calbensern und Freunden der Stadt am Herzen. Die St.-Stephani-Kirche ist nicht nur ein unverzichtbarer zentraler Punkt in Calbe, sondern auch ein Bestandteil unserer historisch gewachsenen kommunalen Gemeinschaft.

 

Ausgewählte Literatur:

Der Kreis Calbe - Ein Heimatbuch, hsg. von Wickel, Werner/Thinius, Otto, Leipzig 1937.

Dietrich, Max, Calbenser Ruhestätten, (Calbe) 1894

Dietr      Haevecker, Johann Heinrich, Chronica und Beschreibung der Städte..., Halberstadt 1720.

Herrfurth, Klaus, Königshof und Kaufmannssiedlung der Stadt Calbe an der Saale, in: Burgen und Schlösser in Sachsen-Anhalt, Heft 12.

Hertel, Gustav, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Reccius, Adolf, Chronik der Heimat, Calbe/Saale 1936.

Rocke, Gotthelf Moritz, Geschichte und Beschreibung der Stadt Calbe an der Saale, 1874.

Teitge, Hans, Zur Baugeschichte der Stephanikirche (Ms.), (Calbe) ca. 1952.

Steinmetz, Dieter H., Geschichte der St.-Stephani-Kirche in Calbe (Ms.), Calbe 2006;

ders., http://members.fortunecity.de/steinmetz41/5stephanikirche.htm

[Website umgezogen, heute: http://calberundgang.kilu.de/ Station 5)]

 

 

Ist der Roland von Calbe der einzige mit Helm?

Erschienen am 25.7.2006 unter der Überschrift "Nicht nur der Roland von Calbe trägt einen martialischen Helm"

Roland Bad Bramstedt

Roland Bad Bederkesa

Wenn man sich einmal die Literatur der letzten Jahre über den Roland von Calbe anschaut, stößt man immer wieder auf solche werbewirksamen Sätze, wie: „Er ist der einzige im deutschen Raum, der einen Helm trägt.“ Oder: „Er ist der einzige seiner Zunft, der einen Helm trägt.“ Beides ist schlichtweg falsch. Weder in Deutschland noch in Europa ist unsere Rolandfigur die einzige mit dieser militärischen Kopfbedeckung, auch wenn uns als Lokalpatrioten diese Erkenntnis schmerzt. Im Gegenteil: 42 Prozent (35 von 83) der noch erhaltenen bzw. erneuerten echten Rolande, die vom 12. bis 18. Jahrhundert errichtet wurden, tragen einen Helm, in Deutschland sind es mit dem von Calbe 9 (von 37 = 24%), in Frankreich 6, Italien 2, Spanien 6, Tschechien/Slowakei 3 und Österreich 9. Städte in Deutschland mit helmtragenden Rolanden sind: Bad Bederkesa (bei Bremen), Bad Bramstedt (Schleswig-Holstein), Calbe an der Saale, Fritzlar, Korbach (beide Hessen), Königsberg (Bayern), Obermarsberg (Nordrhein-Westfalen), Perleberg (Brandenburg) und Weismain (Bayern). Möglicherweise ist die Legende vor Jahrzehnten entstanden, als der calbische Roland als der einzige in der DDR mit Helm bezeichnet wurde, weil man den zierlichen „Schaller“ (mit hochgeklapptem Visier) des Perlebergers fälschlich als Lederkappe deutete.

Roland Calbe

Da der Rolandkult sich zuerst in Frankreich und Spanien herausbildete, wurden dort auch im 12. Jahrhundert die ersten Rolanddarstellungen präsentiert. In dieser Epoche der feudalen Expansionen war der ideale Ritter ein Krieger. Folglich wurde Roland, dem Stil der Zeit entsprechend, meist in voller Ketten-Rüstung mit spitzem Normannen-Helm gezeigt. Als der Kult um Karl den Großen und um seinen Getreuen Roland durch Kaiser Karl IV. in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vorwiegend in Norddeutschland neu belebt wurde, galt inzwischen schon das höfische Ritterideal. Nun trugen die Rolande kaum noch martialische Rüstungen, denken wir an den Bremer, sondern vielmehr versteckte Symbole des Glaubens und der Treue, wie Rosen und Engel. Und der Helm fehlte. Dafür zeigten die strahlenden Jünglinge ihre Lockenpracht, Symbol des göttlichen Heils.

Rolandfiguren, die in der frühen Neuzeit entstanden, trugen dann wieder einen Helm, ein Zeichen nicht nur der veränderten Mode, sondern auch der politischen Situation. Es war die Zeit der verheerenden „Glaubenskriege“ und des absolutistischen Machtpokers. Mit großer Wahrscheinlichkeit war demnach der erste calbische Roland von 1381/82 barhäuptig. Der zweite von 1656 trug, wie man an der steinernen Replik von 1976 sehen kann, trotz seiner wallenden Lockenpracht eine „Zischägge“ des 17. Jahrhunderts, auch unter dem Namen „Helm der Pappenheimer Garde“ bekannt, mit Schmuckfedern wie seine „Kollegen“ aus Bad Bederkesa und Bad Bramstedt. Demnach entspricht auch der immer wieder zitierte „Topfhelm“ des Calbensers nicht den Tatsachen; Topfhelme gehörten zur Ritterausrüstung des 13. Jahrhunderts und ließen nicht allzu viel vom Gesicht des Helden erkennen.

 

Ausgewählte Literatur:

Müller, Heinrich/Kunter, Fritz: Europäische Helme aus der Sammlung des Museums für Deutsche Geschichte, Berlin(-Ost) 1982.

Munzel-Everling, Dietlinde, Rolande - Die europäischen Rolanddarstellungen und Rolandfiguren, Dößel (Saalkreis) 2005.

Kühnel, Harry (Hrsg.): Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Stuttgart 1992.  

 

 

 

Vor 200 Jahren begann die französische Besatzung

 

Erschienen am 15.9.2006 unter der Überschrift "Im 19. Jahrhundert wurde in Calbe mit Franc bezahlt"

 

Napoleon vor Augsburg (Gemälde von Claude Gautherot 1808)

Als die Soldaten Napoleon Bonapartes nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 in unser Gebiet einrückten, mussten die Calbenser Kriegssteuern und Zwangsanleihen von mehreren tausend Talern - heute eine Millionensumme -  sowie  Naturalien im Wert von 4300 Talern aufbringen. Marschall von Frankreich Michel Ney (1769–1815), der - aus einfachsten Verhältnissen stammend - wegen seiner Tapferkeit und Tüchtigkeit zum Befehlshaber aufgestiegen und einer der engsten Vertrauten Napoleons war, hatte sich in Calbe einquartiert, verlegte aber seinen Sitz bald nach Schönebeck, um von dort aus die Belagerung Magdeburgs zu leiten. Jedoch schon am 8. November übergab der Kommandant General von Kleist die Festung trotz vorheriger vollmundiger Sprüche.

1808 kam dann Calbe zum 1807 gegründeten Königreich Westfalen und innerhalb desselben zum neu geschaffenen Elbdepartement mit einem Präfekten an der Spitze. Die Stadt bildete mit dem Umland einen Kanton, der in zwei Verwaltungszentren aufgeteilt wurde, den städtischen (municipal) und den ländlichen (rural) Bereich. Das war das Vorbild für die spätere Einteilung in preußische Provinzen, Bezirke und Kreise. Zum munizipalen Gebiet gehörten Calbe mit den beiden Vorstädten sowie mit Gottesgnaden, Schwarz und Zens (gewissermaßen ein Groß-Calbe); der ländliche Teil des Kantons bestand aus Brumby, Förderstedt, Üllnitz, Glöthe, Eickendorf und Neugattersleben. Die Vorstädte, die seit Jahrhunderten von den Stadtbürgern doch recht dünkelhaft behandelt worden waren, gehörten nun zur Stadtverwaltung, eine Vorausschau auf die Vereinigung am 1. Oktober 1899. Der Präfekt des Elbdepartements, Graf von der Schulenburg-Emden, ernannte an Stelle des 12-köpfigen Magistrats den Munizipalrat in Calbe mit 16 Bürgern, vom Ackermann bis zum Superintendenten, die am 22. November 1808 auf König Jerome, einen Bruder Napoleons, und die Konstitution vereidigt wurden. Außerdem rief man eine fünfköpfige Gendarmerie mit stahlgrauen Uniformen und roten Kragenspiegeln ins Leben, bestehend aus untadeligen Bürgern Calbes. Statt Taler war die Währung jetzt der 1796 ins Leben gerufene französische Franc. Wegen der permanent schlechten Finanzlage des neuen Königreichs, nicht zuletzt hervorgerufen durch die Verschwendungssucht Jeromes, war trotz der augenblicklichen Friedenszeiten eine wirtschaftliche Erholung nicht möglich. Viele junge Männer aus unserem Gebiet wurden gezwungen, in der Armee Napoleons zu dienen. Von den 43 Calbensern des Jahrganges 1789 aber, die 1809 eingezogen werden sollten, waren 23 unauffindbar.

1808 mussten die Bürger des Königreiches eine Zwangsanleihe von 24 Millionen Franc und 1811 erneut eine von 10 Millionen aufbringen. Wer nicht zahlen konnte, dessen Hab und Gut wurde zwangsversteigert, um die geforderte Summe aufzubringen. So geschah es im September 1812 vor dem Russlandfeldzug, als einige Bürger ihren Anteil an der erneuten Zwangsanleihe von 5 Millionen Franc nicht leisten konnten. Die unerbittliche Härte der Okkupanten, was die Versorgung der riesigen Armee betraf, und ihr meist rüdes besatzerhaftes Benehmen führte schließlich dazu, dass die Preußen sich aufraffen und zusammen mit ihren Verbündeten nach vorherigen Reformen Napoleon 1813 bis 1815 schlagen konnten.

Bei all den Bedrückungen, die die französischen Besatzer über unsere Heimat brachten, sollte man aber nicht vergessen, dass durch die „Franzosenzeit“ die Bürger auch mit den Errungenschaften eines jungen bürgerlichen Staates in Berührung kamen. Die Verwaltung wurde durch Zivilregister und vieles andere mehr verbessert, die Justiz auf das bürgerliche Gesetzbuch (Code civil) umgestellt, die Freiheit des Staatsbürgers und der Schutz des Eigentums garantiert sowie die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden eingeführt. Die Zünfte und Gilden als Hemmschuhe der kapitalistischen Wirtschaft und die feudale Leibeigenschaft wurden abgeschafft. Dieser frische Wind interessierte unsere bis an die Leidensgrenze ausgeplünderten Vorfahren verständlicherweise aber wenig. Als nach der Abschüttelung der napoleonischen Besatzung und nach dem Wiener Kongress 1815 unser Gebiet wieder preußisch wurde, blieb jedoch der bürgerliche Impetus, der von den französischen Okkupanten ausgegangen war, erhalten, die reformerische Umgestaltung Preußens mit bürgerlich-kapitalistischen Zügen war in Gang gekommen.

 

Literatur:

Der Kreis Calbe - Ein Heimatbuch, hrsg. von Wickel, Werner/Thinius, Otto, Leipzig 1937.

Hertel, Gustav, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Reccius, Adolf, Chronik der Heimat (Urkundliche Nachrichten über die Geschichte der Kreisstadt Calbe und ihrer näheren Umgebung), Calbe/Saale 1936.

 

 

 

 

Königshof und Rittersitz in Calbe

 

Erschienen am 28.9.2006 unter der Überschrift "Indizien: Königshof schon um 800"

 

Ehemaliger Rittersitz Ritterstr. 1 um 1930

Es gibt einige Indizien dafür, dass der im 10. Jahrhundert erwähnte Königshof (curtis bzw. curia regia) von Calbe bereits in fränkischer Zeit um 800 existierte. Königshöfe, die heute wieder prinzipiell zu den Königspfalzen gerechnet werden, lagen meist auf königlichem Eigengut (Krongut) und bildeten wirtschaftliche, militärische und verwaltungspolitische Basen der Reichsgewalt. Unsere Curia war nach Anhaltspunkten späterer Quellen wahrscheinlich im Bereich der heutigen Kuhgasse und südlichen Ritterstraße zu finden. Ein solcher Sitz enthielt das herrschaftliche Hauptgebäude (Palas), die Kirche (Hofkapelle) und in der Mehrzahl die Wirtschaftsgebäude, Proviantlager, Mannschaftsunterkünfte und Waffenlager. Das Ganze war mit einer Befestigung umgeben. Die Nord-Süd-Magistrale, die von Magadoburg (Magdeburg) nach Halla (Halle) direkt am Königshof vorbei führte, hieß lange Zeit die „Heerstraße“. Schlossstraße und Bernburger Straße kennzeichnen heute noch ihren Verlauf in Calbe. Bei Heerschauen des fränkischen Volks-Aufgebotes und bei Kriegszügen zog das Heer auf dieser Straße und machte im Königshof, der auch militärischer Etappenort war, Rast. Eigentlich waren Königshöfe dazu da, die Königsherrschaft überall im Lande präsent werden zu lassen, denn da das ostfränkisch-deutsche Reichsgebiet damals noch keine Hauptstadt  besaß, zogen die „Reisekönige“ mit ihrem Hofstaat von einem zum anderen der im Herrschaftsgebiet verstreut liegenden Königshöfe bzw. Pfalzen, um Gericht und Hoftage (Beratungen) zu halten, Regierungsanweisungen zu erteilen, auf die Jagd zu gehen und Feste zu feiern. Leibeigene und hörige Bauern hatten auf dem Krongut zur Ausstattung des Hoflebens und der Wirtschaft der Höfe Abgaben und Frondienste zu leisten. Als Hofverwalter mit Weisungsgewalt waren Dienstmannen des Königs eingesetzt worden, die man Hausmeier, Villici oder Vögte nannte. In Calbe lag das Zentrum der Anlage wahrscheinlich auf der Anhöhe Ecke Kuhgasse/Ritterstraße, wo noch Jahrhunderte später der Begriff „Großer Hof“ existierte. 965 schenkte Kaiser Otto I. seinen Königshof in Calbe ebenso wie den in Rosenburg dem Mauritius-Kloster in Magdeburg mit allem Zubehör.

Als nun Otto 968 das Stift des Heiligen Mauritius zum Erzstift erhob, waren die Magdeburger Erzbischöfe über sechshundert Jahre lang die Herren des Hofes in Calbe. So war aus der ehemaligen königlichen Pfalz eine Curia der geistlichen Herren geworden, die diese nicht nur wegen der „lieblichen“ Saale-Landschaft, sondern auch wegen des Abstandes zu den immer aufsässiger werdenden Magdeburger Bürgern schätzten.

Als schließlich im 14. Jahrhundert ein neues Schloss am Mühlgraben an der Nordwest-Ecke der Stadt erbaut worden war, blieben die Gebäude des alten Hofes im Stadt-Zentrum zuerst noch eine Außenstelle der Schloss-Vogtei.

Im 15. Jahrhundert wandelten die Magdeburger Erzbischöfe, die sich als Landesherren immer mehr unabhängig gemacht hatten, das erzbischöfliche Gut teilweise in Freihöfe um, die sie als Lehen vergaben. Einer davon wurde ein Rittergut, dessen Rittersitz mit dem dazu gehörigen Hof in der heutigen Ritterstraße 1 lag. Damals hieß die Straße noch Herrenstraße. Adlige, die ein solches Gut zum Lehen hatten, waren verpflichtet, ihrem – in diesem Falle erzbischöflichen - Lehnsherren Militär- und Beamten-Dienste sowie Geld-Abgaben zu leisten. Die ersten nachweisbaren Besitzer waren die Ritter von Hacke aus einem bekannten Adelsgeschlecht, das bedeutende Persönlichkeiten hervorbrachte. Nun lag ein Rittersitz mit eigener niederer Gerichtsbarkeit, eigenem Pranger und anderen herrschaftlichen Vorrechten wie eine Enklave inmitten einer bürgerlichen Kommune. Da verwundert es nicht, dass es laufend Reibereien zwischen den selbstgefälligen Junkern und den Ratsherren gab.

Simulationen: links Königshof um 900, rechts Rittersitz um 1720

Nach fast zweihundertjährigem Besitz kam 1559 das Rittergut von den Hackes an die Familien von Ingersleben und von Haugwitz. 1622 wurde im Rittersitz Herrenstraße 1 Anna Margareta von Haugwitz geboren, die 1640 den Kriegsgewinnler und späteren schwedischen Reichsmarschall Carl Gustaf Wrangel Graf von Salmis heiratete. Als man 1680 das Erzstift Magdeburg in ein kurbrandenburgisches Herzogtum umwandelte und die Haugwitznachfolger kinderlos starben, fiel das Rittergut 1684 an die Krone. 1685 kaufte es der städtische Rechtsbeamte und spätere Bürgermeister Johann Friedrich Reichenbach, der außerdem noch den stattlichen „Lemmerhof“ besaß. Nach einem vernichtenden Brand 1694 wurde der Rittersitz 1715 im schlichten Barockstil wieder errichtet.

Mit dem Ausbau der preußischen Gutswirtschaften und der Festigung der zweiten Leibeigenschaft kam es zu einer erneuten Blüte der Herrschaft in der Ritterstraße. Zum Rittergut Calbe gehörten in der Mitte des 18. Jahrhunderts 345 Morgen Acker und ca. 10 Prozent des gesamten calbischen Viehbestandes.

Als Napoleon nach 1806 die alten feudalen Ritterguts-Vorrechte aufhob und 1807 die Erbuntertänigkeit in Preußen abgeschafft wurde, ging es auch mit dem Reichenbach’schen Gut, wie es immer noch genannt wurde, bergab. Kurzzeitige Besitzer verkauften den Grund und Boden stückweise an Interessenten, u. a. auch an die Bergwerks-Unternehmer-Familie Douglas. 1832 zog in den geräumigen Hof an der Ritterstraße eine Posthalterei und 1870 ein Unternehmen für den Bau von Kutsch- und Gebrauchswagen. Als infolge der Inflation das Wagenbau-Unternehmen 1923 in den Konkurs ging, erwarb der schlesische Rohkonserven-Unternehmer Grohlich das Gelände und stattete es mit Fabrikanlagen aus. Im ehemaligen Rittersitz wohnte das Leitungs-Personal. Nach der Übernahme durch das calbische Rohkonserven-Unternehmen Albrecht im Jahr 1939 wurde dieses Gebäude als Mietshaus genutzt. In den 1970-er Jahren, nun im Besitz des VEB OGEMA, begannen Haus und Hof, die nur noch sporadisch und teilweise genutzt wurden, allmählich zu verfallen.

Königshof und Rittergut waren mit Sicherheit Kristallisationskerne für die Entwicklung der Stadt Calbe gewesen. Zumindest das Rittersitz-Gebäude mit einer nicht unbedeutenden historischen Vergangenheit sollte erhalten bleiben.

 

Quellen und Literatur:

Acta der Polizei-Verwaltung zu Calbe… Ritterstraße Nr. 1 - Ergangen im Jahre 1844 - Sect. II Littr.G Nr. 19.

Hävecker, Johann Heinrich, Chronica und Beschreibung der Städte..., Halberstadt 1720.

Herrfurth, Klaus, Königshof und Kaufmannssiedlung der Stadt Calbe an der Saale, in: Burgen und Schlösser in Sachsen-Anhalt, Heft 12.

Kinderling, Johann Friedrich August, Eine Ortsbeschreibung der Stadt Calbe a. S. in den Jahren 1796 – 1799, veröffentlicht von Max Dietrich, Calbe 1908.

Reccius, Adolf, Chronik der Heimat, Calbe/Saale 1936.

Schwachenwalde, Hanns, Das Rittergut Calbe, Ms.

 

 

 

Der Lachskrieg der Saalefischer von Calbe

 

Erschienen am 16.10.2006 

 

Ausschnitt aus dem Kupferstich "Calbe an der Saal" von Caspar Merian 1653

Die Saale-Fischerei bei Calbe lässt sich bereits im 10. Jahrhundert nachweisen, wird aber mit Sicherheit noch älter sein. Besonders in der Nähe des Wehres dicht bei der Wassermühle war der Fang von Welsen, Brassen, Barschen, Stören, vornehmlich aber von Lachsen außerordentlich ergiebig. 1652 wurden hier 1063 Lachse gefangen. 1439 hatten die Fischer der calbischen Süd-Vorstadt (Bernburger Vorstadt) die „Brüderschaft St. Nicolai“ gegründet, die vom Erzbischof Günther II. Graf von Schwarzburg im Stift „Gottes Gnade“ bestätigt und beglaubigt worden war. Seither besaßen die Dorfbewohner und erbuntertänigen Fischer quasi eine Zunft wie vornehme Stadtbürger, ein unerhörter Vorgang (- doch darüber später einmal ausführlicher).

Der Streit zwischen den Stadtbürgern und den selbstbewussten, unter fürstlichem Schutz stehenden Fischern war so förmlich vorprogrammiert. Er eskalierte in der Zeit des zunehmenden Ausbaues des landesherrlichen Absolutismus seit dem 17. Jahrhundert, in der es die um Freiheit ringenden Städte gern auf Kraftproben mit der feudalen Obrigkeit ankommen ließen. Der auf dem Rücken der Fischer ausgetragene „Lachskrieg“ von Calbe, wie er schon damals genannt wurde, war ein Ausdruck dieses Ringens.

Alles fing damit an, dass der calbische Rat 1702 von den Fischern forderte, sie sollten, obwohl sie als Hörige dem Landesherrn unterstanden, ihre Fische zuerst auf dem Markt von Calbe feilbieten. Das wurde nach gerichtlichem Hin und Her auch gestattet. Der Haken an der Sache aber war, dass nun der Rat die Preise, und zwar zu Gunsten der Bürger und zu Ungunsten der Fischer, bestimmte. Als sich Fischermeister Zehling diesem Preisdiktat nicht beugen wollte, wurde er mit einer Strafgebühr belegt. Zehlings Wutausbruch und seine Schimpf-Tiraden führten zu dessen Verhaftung durch den Rat. Er wurde aber nicht, wie in solchen Fällen üblich, ins Arrestlokal im Rathaus, sondern in ein finsteres Loch im Gefängnis für Schwerverbrecher, dem so genannten Hexenturm, gesperrt. Hier presste man ihm die „Urfehde“ ab, das heißt, er musste schwören, sich für die erlittene Schmach nicht am Rat zu rächen. Aber auch die anderen Fischer-Brüder weigerten sich nun, die Hoheit der Bürger von Calbe über ihren Warenverkauf und das Preisdiktat anzuerkennen.

Siegel der Fischer-Brüderschaft

1704 bekamen die Fischer von der königlichen Kammer in Halle schließlich den Bescheid, dass „sie ihre Fische verkaufen könnten, wo und wie sie wollten." Nun waren die Rechts-Experten des Rates mit dem Syndikus an der Spitze gefragt, und sie fanden, was sie brauchten: Im § 2 des Brüderschafts-Innungsstatutes von 1647, das die Fischer wahrscheinlich selbst nicht mehr kannten und vielleicht auch nicht lesen konnten, stand ganz eindeutig, dass sie verpflichtet waren, ihre Fische zuerst in Calbe auf dem Markt anzubieten. Außerdem gab es auch noch eine Bestimmung des "Großen Kurfürsten" Friedrich Wilhelm vom 19. Februar 1698, dass die gefangenen Fische auf den Markt zu bringen und zu versteuern wären. Gerade die staatliche Warensteuer (Akzise) war für die Entwicklung des aufstrebenden Staates Brandenburg-Preußen von großer Bedeutung. Als die Fischer nach diesen klaren Beweisen noch nicht klein bei geben wollten, griff man zur Gewalt. Am 25. April 1705 beschwerten sich die königlichen Beamten, dass drei bewaffnete Exekutoren (Vorläufer der Polizei) einige Fischer ins Rathaus abgeführt hätten, obwohl diese doch Untertanen des Schloss-Amtes wären. Trotz Androhung schärferer Gewalt blieben die Fischer-Brüder aber standhaft und wurden wieder entlassen. Am 11. Mai schickte der Rat einen Untersuchungsbeamten und einen Korporal (Unteroffizier) mit drei Soldaten, welche die Mitglieder der Fischerbrüderschaft mit geladenen Gewehren "per force" (mit Gewalt) aufs Rathaus schleppten. Wieder kein Ergebnis. Als Schikane sollten nun die Soldaten, "die in den Behausungen der Fischer Fressen und Saufen verlangt hatten" und sich absichtlich rüpelhaft benahmen, so lange dort bleiben, bis die Brüder entnervt aufgeben würden, um ihre Familien von der Last zu befreien. Nun aber rückte der Amtsdiener der Vorstadt mit acht Dörflern an, welche die Soldaten mit Mistgabeln und Knüppeln vertrieben. Als die Exekutoren schließlich mit 30 Musketieren erschienen, kam es endlich am 25. Mai 1705 zum Kompromiss: Der Rat wollte keine Preisvorschriften mehr machen, dagegen sollten die Fischer die Lachse, ehe sie diese an Fremde verkauften, zwei Stunden auf dem Marktplatz von Calbe feil halten.

 

Literatur

Hertel, Gustav, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Reccius, Adolf, Chronik der Heimat…, Calbe/Saale 1936.

 

 

Rechtsprechung im mittelalterlichen Calbe

 

Erschienen am 6.11.2006 unter der Überschrift "Im Gericht tagten Gott, Richter und Schöffen"

 

Altes Rathaus von Calbe

In und vor der mittelalterlichen Regierungs- und Handelsstadt Calbe gab es mehrere Gerichtsstätten, deren Existenz uns in alten Quellen überliefert ist. Nach frühmittelalterlicher Auffassung kamen Recht und Gesetz direkt von Gott, und die Herrscher waren deren irdische Vollstrecker ohne eigene Gesetzgebungsgewalt. Erst im Spätmittelalter wandelte sich diese Auffassung. Erscheinungsformen des in der Bibel formulierten göttlichen Rechts („Gott selbst ist das Recht“) waren das schon Jahrhunderte alte Gewohnheitsrecht und Bruchstücke überkommener römischer und fränkischer Gesetze. Im Hochmittelalter war es notwendig geworden, etwas Ordnung in die sich zum Teil widersprechenden Rechtsauffassungen zu bringen, und rechtskundige Männer gingen nun daran, die bisherigen juristischen Festlegungen, die sich bewährt hatten, niederzuschreiben und sogar zu illustrieren. Der bekannteste von ihnen war der ganz aus unserer Nähe stammende Eike von Repgow (Reppichau) (ca. 1180 - ca. 1235), dessen Fixierung des norddeutschen Rechtsgebrauchs in den 1220-er Jahren als immer wieder kopierter „Sachsenspiegel“ in die Geschichte einging.

Eine der calbischen Gerichtsstätten befand sich vor dem Südtor, das damals noch Burgtor hieß, heute an der Ecke Bernburger Straße/Neustadt. Hier stand bis ins 19. Jahrhundert der „Steinerne Stuhl“, auch „Gericht zum Freien Stuhl“ genannt. An dieser Stelle tagte laut Hävecker seit alten Zeiten das Ältestengericht. Solche Schöffengerichte kamen nach einer anderen Quelle im Frühjahr und im Herbst, manchmal auch im Sommer zusammen. Wenn die Fülle der Rechtsfälle es erforderte, konnten mehrere Verhandlungstage angesetzt werden. Nach altem Brauch lagen die Stuhlgerichte in der Nähe einer Burg, eines Königshofes, einer Kapelle, eines fließenden Gewässers, eines uralten Baumes und an einem archaischen Weg. All das traf für den Freien Stuhl vor Calbe zu. Eine daneben stehende Säule ersetzte möglicherweise einen nicht vorhandenen alten Baum. Die Kapelle, in der eine Reliquie aufbewahrt wurde, war das St.-Jacobi-Kirchlein, das später spurlos verschwunden ist. Ein Fluss – in unserem Falle die Saale – spielte auch bei den Brückengerichten, von denen es eines im Norden vor der Stadt gegeben haben soll, eine aus frühmittelalterlicher Zeit hergeleitete naturrechtliche Rolle. Der bedeutende Weg, an dem das Gericht zum Freien Stuhl tagte, war die aus germanischer und fränkischer Zeit stammende Bernstein- und Heerstraße, deren Verlauf durch Calbe von der heutigen Schloss- und Bernburger Straße gekennzeichnet wird.

Mittelalterliches Gericht

Barhäuptig erschienen vor dem Stuhl die Kläger und Beklagten sowie Vertragspartner und interessiertes Publikum. Zum Gerichtsgremium gehörten 6 Adlige und 6 unbescholtene Bürger bzw. freie Bauern. Einer der sechs Adligen fungierte als vom Landesherrn eingesetzter vorsitzender Richter, in unserer Gegend „Stargar“ oder „Starger“, in anderen „Comes“ (Gauverwalter) genannt. In bestimmten Fällen übernahm der Landesherr selbst diese Rolle. Der Stargar und die 11 Schöffen entschieden über Lehens- und Kriminalfälle und ratifizierten Schenkungs-, Tausch- und Kaufverträge. Über Schwerverbrechern wurde nach deren Verurteilung ein Holzstab zerbrochen, um das Todesurteil rechtskräftig zu machen.

Ein steinernes Kreuz, das in der Nienburger Straße in Calbe steht, weist uns auf eine Absonderlichkeit des mittelalterlichen Rechts hin. Seit germanischer Zeit konnte es bei Tötungen zur Verhinderung der Blutrache eine Absprache zwischen den Familien des Getöteten und des Täters geben, wobei die Bluttat mit der Zahlung einer erheblichen Geld- oder Naturaliensumme und der Aufstellung eines Sühnesteines - in christlicher Zeit in Kreuzform - gebüßt werden konnte. Später sanktionierte die katholische Kirche diesen Brauch und verlangte die Beteiligung an dem Blutgeld, das Lesen von einträglichen Seelenmessen und die Durchführung von Wallfahrten. Außer dem Sühne- oder Mordkreuz an der Nienburger Straße, an dem leider keine Namen mehr zu entziffern sind, gab es früher im Bereich von Calbe mindestens noch drei andere. Durch das Inkrafttreten der „Consitutio Criminalis Carolina“ von 1532, der „Hals- oder Peinlichen Gerichtsordnung“ Karls V., wurde der Brauch, Sühneverträge zu schließen, durch staatliches Strafrecht abgelöst.

Als Calbe in den 1160-er Jahren von Erzbischof Wichmann Graf von Seeburg aus dem Landrecht herausgenommen wurde und einen eigenen Stadtrichter, den Schultheiß (- „der die Schuld verheißt“ -) Hugold von Calbe erhielt, wurden Belange der eben erst aus der Taufe gehobenen Stadt zunächst in der „Ratslaube“ am Alten Markt (heute südlicher Teil der Schlossstraße), später vor dem (alten) Rathaus am Neuen Markt (heute Marktplatz) unter einer großen Linde neben dem 1381/82 erstmals erwähnten Roland verhandelt.

Richtlinien der calbischen Rechtsprechung auf der Grundlage des „Magdeburger Rechtes“ waren im „Wetebuch“ (Weisungsbuch) der Schöffen und der „Willkür“ (- „gewählter Wille“ -), der selbst gegebenen innerstädtischen Verfassung von Calbe, festgelegt.

In brandenburgisch-preußischer Zeit erhielt das Recht auch in Calbe (nach 1680), ausgehend von den Gerechtigkeits-Grundsätzen der Aufklärung, eine fast modern erscheinende bürgerliche Ausformung. Das könnte jedoch Gegenstand eines späteren Artikels sein.

 

Literatur

Haevecker, Johann Heinrich, Chronica und Beschreibung der Städte..., Halberstadt 1720.

Hertel, Gustav, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Leuckfeld, Johann Georg, Antiquitates Praemonstratenses…, Magdeburg/Leipzig 1721.

Munzel-Everling, Dietlinde, Rechtsvisualisierung in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, in : http://www.munzel-everling.de.

Müller, Werner, Baumann, Günter E. H., Kreuzsteine und Steinkreuze in Niedersachsen, Bremen und Hamburg - Vorhandene und verloren gegangene Rechtsdenkmale und Memorialsteine, hrsg. vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, Hameln 1988.

Reccius, Adolf, Chronik der Heimat…, Calbe/Saale 1936.

Derselbe, Starger und Ältestgericht, in: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg, 1933/34.

 

Calbe und das brandenburgisch-preußische Militär

 

Erschienen am 27.11.2006 unter der Überschrift "Calbes Männer dienten im Leibregiment des Königs"

 

Kürass in der Heimatstube Calbe/S.

In der Zeit der brutalen, willkürlichen Rekrutierungen am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als die brandenburgisch-preußischen Herrscher noch nicht wussten, woher sie die dringend benötigten Soldaten bekommen sollten, flohen nicht nur die Bauernburschen, sondern auch ganze Familien und die Dorfbewohner aus den Gebieten, in denen Zwangsrekrutierungen betrieben wurden. Der wirtschaftliche Schaden in dem durch den Dreißigjährigen Krieg ohnehin ruinierten Land war natürlich groß.

Friedrich Wilhelm I. beendete diese "wilden Rekrutierungen" und damit in gewissem Sinne die Unsicherheit der Bevölkerung in Bezug auf militärische Nachwuchsgewinnung. 1733 verkündete der Soldatenkönig das Kantonreglement, nach dem das ganze Land in Militärkantone eingeteilt wurde, aus denen sich die Regimenter zu rekrutieren hatten. Die Rekrutierungen betrafen ausschließlich Bauern- und Bürgerburschen. Nach dem Motto "Wer die Jugend hat, hat auch die Zukunft!" begann man mit der Vorbereitung bei den Knaben. Die Kommandeure ließen in ihrem Kanton alle gesunden und gut gewachsenen Jungen als Nachwuchs für die einzelnen Regimenter registrieren. Die kleinen Burschen trugen nun die Regimentsfarbe an ihren Hütchen, die sie als künftige Soldaten kennzeichnete. Um die Jungen als potentielle Soldaten und die Mädchen als künftige Soldatenfrauen für militärischen Glanz zu begeistern, bekamen auch die calbischen Schulkinder bei Truppen-Durchmärschen, Paraden und Militär-Festen schulfrei.

Schlacht bei Hohenfriedeberg. Gemälde von Carl Röchling

 

Nach der Konfirmation wurde die Jungmannschaft »enrolliert«, d. h. in die Stammlisten eingetragen. Benötigte der Kommandeur Ersatz, zog er so viele Enrollierte mit der vorgeschriebenen Größe ein, wie er brauchte. Die Mindestgröße der Kantonisten von 1,72 m war keine Marotte der Könige, sondern eine militärische Notwendigkeit. Um die langläufigen und dadurch genauer schießenden preußischen Musketen von oben laden und die etwa 20 kg schwere Ausrüstung über größere Entfernungen schleppen zu können, bedurfte es hochgewachsener, kräftiger Burschen. Übrigens: Das geflügelte Wort vom "unsicheren Kantonisten" stammt aus dieser Zeit, als es auch junge Männer gab, die sich mit dem Gedanken trugen, nicht "bei der [Regiments-]Fahne" zu bleiben und sich rechtzeitig abzusetzen, also bereits als Enrollierte vor ihrem Militärdienst zu desertieren. Allerdings war es für Vermögendere auch möglich, sich vom Militärdienst freistellen zu lassen. So wurden beispielsweise in Calbe Söhne und Patenkinder von reichen Handwerksmeistern und Kaufherren durch Loskauf freigestellt.

Calbe gehörte zum Kanton für das Infanterie-Regiment Nr. 5 (Regiment zu Fuß), dem berühmt-berüchtigten "Leibregiment des Königs". So hatten denn auch die jungen Männer aus Calbe neben denen aus Magdeburg, Staßfurt, Aken, Egeln, Görzke, Loburg und Luckenwalde sowie den Bauernburschen aus den Kreisen Jerichow I und II, Luckenwalde und aus dem Holzkreis I des Herzogtums Magdeburg die zweifelhafte Ehre, für ihren hohen Blutzoll in den inzwischen in die Kriegsliteratur eingegangenen Schlachten von Hohenfriedeberg, Lobositz und an der Katzbach die Lieblinge Friedrichs II. zu sein. Die Verluste dieses Leibregiments auf den Süptitzer Höhen bei Torgau waren so hoch, dass der König jegliche Bekanntgabe verbot.

Spießrutenlauf

Von 1753 bis zum Zusammenbruch Preußens 1806 war in Calbe das Kürassierregiment Nr. 3, das seit 1656 als "Leib-Kürassierregiment" des Königs galt, stationiert. Kürassiere nannte man die schwere Reiterei, die noch im 16. und 17. Jahrhundert voll gepanzert war. Davon blieb im 18. Jahrhundert wegen der besseren Beweglichkeit nur der Brustpanzer (Kürass) übrig. Ursprünglich war vorgesehen, zwei der fünf zum Regiment gehörenden Eskadronen mit je 2 Kompanien, somit insgesamt 4 Kompanien, nach Calbe zu legen. Neubauten oder Kürzungen der städtischen Nahrung sollten auf keinen Fall in Frage kommen. Der Magistrat glaubte solchen Versprechungen jedoch nicht und erhob Einspruch. Er argumentierte, die Tuchfabrikation würde beeinträchtigt. Mit der potentiellen Behinderung der Tuchmacherei trafen sie bei Friedrich II. einen empfindlichen Nerv. Man führte schließlich einen Kompromiss herbei, indem nach Calbe "nur" eine Eskadron mit 2 Kompanien gelegt wurde.

1784 durfte mit Zustimmung der königlichen Regierung der aus Südwestdeutschland stammende Reiter Friedrich Wilhelm Raab Bürger in Calbe werden. Sein Schicksal in friderizianischer Zeit ist typisch für das vieler junger Männer jener Epoche und soll hier kurz nach den Ratsakten skizziert werden:

Der aus Bruchsal stammende Fleischergeselle Raab ging 1760 in die Fremde und wurde französischer Husar, er desertierte aber bald zu den Preußen. Dort trat er in das Freikorps des Obersten Friedrich Wilhelm von Bauer ein und wurde nach dem Siebenjährigen Kriege bei Auflösung dieses Korps Reiter bei den Leibkürassieren in Calbe. Als solcher erhielt er Urlaub in Erbschaftsangelegenheiten nach seiner Heimat. Als er von der langen Reise (ca. 850 km hin und zurück) nicht rechtzeitig zurückkehrte, musste er zehnmal Spießruten laufen – eine nicht selten tödlich ausgehende Tortur - und wurde danach an das Bataillon in Aken verkauft. Später machte ihn Rittmeister von Esebeck frei und nahm ihn als Jäger (Scharfschütze) an. Als solcher wurde er beim Wildschießen für seinen neuen Gönner im Barbyer Gehege, also auf kursächsischem Gebiet, ertappt, festgenommen und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, welches er in Torgau absitzen musste. Danach war Raab als Werber tätig und verkaufte calbische Rekruten an fremde Regimenter, zu deren Kantonen Calbe gar nicht gehörte. Deshalb wurde er wieder verhaftet, bald jedoch mit einer Verwarnung entlassen.

Als dieser Mann in Calbe darum bat, erhielt er 1784 trotz seiner katholischen Konfession und seiner dubiosen, unbürgerlichen Vergangenheit das Bürgerrecht.

Calbes Zeit als preußische Garnisonsstadt endete mit dem Einmarsch der napoleonischen Truppen 1806.

 

Literatur:

Das altpreußische Heer. In: http://www.preussenweb.de

Reccius, Chronik der Heimat (Urkundliche Nachrichten über die Geschichte der Kreisstadt Calbe und ihrer näheren Umgebung), Calbe/Saale 1936.

Schoeps, Julius Hans, Preußen, Geschichte eines Mythos, o. O. 2001.

 

 

 

2007

 

 

Wo stand die Burg von Calbe?

Erschienen am 25.1.2007 unter der Überschrift "Wo befand sich einst die Calbenser Burg?"

 

Hohes Ufer am calbischen Saalebogen

Im Gebiet der heutigen Stadt Calbe stand zur Zeit der Ottonen eine Burg. Schriftliche Quellen belegen diese Tatsache eindeutig. In einer bedeutenden Urkunde Ottos I. vom 23. April 961 wurde unter anderen die „Cicitas“ (Burg) Calbe erwähnt, und zwar sogar als Mittelpunkt eines Burgward-Bezirkes. Nach den Angaben des Geschichtsschreibers Widukind von Corvey musste jeder neunte waffenfähige Mann, der in einem solchen „Burgwardium“ lebte - zu dem nach heutigem Forschungsstand 10 bis 20 Siedlungen gehörten -, als Ministeriale (Dienstmann) in der Burg dienen. Aus diesen damals noch hörigen militärischen Burgbesatzungen rekrutierte sich im Spätmittelalter der überwiegende Teil des Rittertums. Handwerker, freie und untertänige Bauern lebten nahe der Burg im „Suburbium“, was etwa mit Burgsiedlung oder Vorburg übersetzt werden kann.

Die calbische Burg war im 10. Jahrhundert wie viele andere Befestigungen jener Zeit größtenteils aus Holz erbaut. Das wissen wir genau aus dem Bericht des jüdischen Händlers und Gelehrten Ibrahim Ibn Jacub, der um 970 schrieb, dass er an der Burg Calbe und an der aus Steinen errichteten Nienburg vorbeigekommen war. Die besondere Hervorhebung der steinernen Nienburg weist darauf hin, dass es sich bei der calbischen Befestigung um eine „normale“, nämlich hölzerne Burganlage gehandelt hat. Wir dürfen also bei unserer Vorstellung von einer ottonischen Burg nicht von dem Bild einer hochmittelalterlichen Herrenburg wie der Burg Falkenstein/Harz oder der Wartburg ausgehen. Vielmehr traf man im 10. Jahrhundert auf solche eher bescheiden wirkenden Anlagen, wie in der Abbildung „Ottonischer Burgward“ dargestellt. Das unter Karl dem Großen vereinzelt begonnene, unter Heinrich I. verstärkt aktivierte und unter dessen Sohn Otto I. perfektionierte Burgwardsystem beruhte unter anderem auf der Bildung einer Kette von gut gerüsteten Burgen entlang der Elbe-Saale-Linie. Nachbarburgen zu Calbe waren die Rosen- und die Nienburg.

Nun fragt man sich, auf welcher Seite des heutigen Calbe die Burganlage stand.

Bei der Beantwortung dieser Frage helfen uns alte Urkunden und Ortsbezeichnungen. 1373 wurde ein „Burg“tor erwähnt, aber welches der drei Stadttore war es? Da es ein „Gröpertor“, das später „Schlosstor“ hieß, ein „Brumbyer Tor“, das eindeutig das Westtor war, und außer den 5 Wasserporten und einer Fluchtpforte eben dieses „Burgtor“ gab, die Gröper (Töpfer) sich aber im Norden vor der Stadt angesiedelt hatten, bleibt nur der Schluss, dass das Burgtor das Südtor war. Diese These wird durch andere urkundliche Eintragungen erhärtet.

1. In einem Erbvertrag ging es 1489 um ein Grundstück im „Neumarkt-Viertel… bei dem borchthore (Burgtor)“. Dieses Neumarktviertel befand sich im Süden des alten Stadt-Areals.

2. Ein Feldhüterturm an der damals schon großenteils abgerissenen südlichen Stadtmauer wurde 1745 noch „Burgturm“ genannt.

3. Seit frühesten Zeiten wurde eine Siedlung innerhalb der späteren Südvorstadt als „Unterwällische Bauernschaft“ bezeichnet. Diese Bauern, die unter (vor) den (Burg-)Wällen wohnten, waren Bewohner des alten Suburbiums gewesen.

Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Burganlage von Calbe im südlichen Teil der nachfolgend entstehenden Stadt oder südlich vor ihr befand. Wo aber genau?

Und hier gehen die Meinungen auseinander.

Reste der Taufkapelle des Königshofes

Klaus Herrfurth, Pfarrer i. R. und Lokalhistoriker, sieht den Königshof („Curia regia“), der sich im Bereich der Ritterstraße und Kuhgasse befand (s. „Schönebecker Volksstimme“ vom 28. 9. 2006) als identisch mit der apostrophierten Burg von Calbe an und setzt auf Grund von Analogien den Begriff „Sudenburg“, der im 14. Jahrhundert in den calbischen Akten wiederholt auftaucht, mit „Suburbium“ gleich.

Frühere Heimathistoriker wie Adolf Reccius glaubten in den Quellen Indizien dafür gefunden zu haben, dass eine Burganlage in der später so genannten Bernburger Vorstadt stand. Reccius führte als Belege die folgenden Fakten an:

1386 belehnte Erzbischof Albrecht III. den Schöffen Peter Oyge u. a. mit einem Weingarten vor Calbe nahe der Laurentiikirche und einem Teil von einem Hofe, genannt Sudenburg. 1446 gab Erzbischof  Friedrich III. dem Vasallen Klaus von Kröcher ein Gelände vor Calbe zum Lehen, genannt "der Wyngarte" (Weingarten) mit zwei Höfen, "genannt upper Borgh" (auf der Burg). Reccius vermutete auf Grund dessen das Burg-Gelände dort, wo 1844 die Tuchfabrik („Wolldeckenfabrik“) der Unternehmer Nicolai (heute: Senioren-Wohnanlage) und in den 1650-er Jahren der einträgliche Gasthof „Goldener Engel“ (heute: Bernburger Straße 63) des Zollbeamten Christoph Deutschbein auf dem Areal ehemaliger Adelshöfe errichtet worden waren.

Folglich hätte es wohl im Bereich des heutigen Calbe zwei befestigte Anlagen gegeben: den Königshof und die Burg. Das ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich, weil dem durchreisenden Ibn Jacub dieser ungewöhnliche Fakt sicherlich aufgefallen und weil bei der damals sehr geringen Bevölkerungsdichte (etwa 10 Einwohner je Quadratkilometer) eine logistische Unterhaltung zweier solcher komplexer Einrichtungen sowohl personal- als auch vorratstechnisch praktisch nicht möglich gewesen wäre. Allein der Betrieb eines Königshofes erforderte die Aufbringung aller verfügbaren Reserven und verlangte hauptsächlich von den Bauern intensivste Anstrengungen. So ist also anzunehmen, dass der Königshof zugleich die Burg von Calbe war. Möglich ist allerdings, dass auf dem hohen Ufer des Saalebogens ein „Lug-ins-Land“ als Außenposten der Königshof-Burg stand und dass die in den Urkunden erwähnten Höfe die Vorburg-Sitze der in der „Curia“ dienenden Ministerialen waren. All das bleibt aber ohne archäologische Befunde im Bereich historischer Hypothesen, um nicht zu sagen: Spekulationen. Nur wissenschaftlich gesicherte  Grabungen könnten Licht in das calbische Burgen-Dunkel bringen.

 

Literatur:

Brachmann, Hansjürgen (Hrsg.), Burg, Burgstadt, Stadt. Zur Genese mittelalterlicher nichtagrarischer Zentren in Ostmitteleuropa,  Berlin 1994.

Dietrich, Max, Calbenser Ruhestätten, (Calbe) 1894.

Hävecker, Johann Heinrich, Chronica und Beschreibung..., Halberstadt 1720

Herrfurth, Klaus, Königshof und Kaufmannssiedlung der Stadt Calbe an der Saale, in: Burgen und Schlösser in Sachsen-Anhalt (Mitteilungen der Landesgruppe Sachsen-Anhalt der Deutschen Burgenvereinigung e. V.), Heft 12.

Kinderling, Johann Friedrich August, Eine Ortsbeschreibung der Stadt Calbe a. S. in den Jahren 1796 – 1799, veröffentlicht von Max Dietrich, Calbe 1908.

Reccius, Adolf, Chronik der Heimat (Urkundliche Nachrichten…), Calbe/Saale 1936.

Regesta Imperii II, 1, 1 no. 296.  

Widukinds Sächsische Geschichten/Nach der Ausgabe der Monumenta Germaniae übersetzt von Reinhold Schottin. Nebst der Schrift über die Herkunft der Schwaben und Abraham Jakobsens Bericht über die Slavenländer, Leipzig 1891.

 

 

Die Kirche in Gottesgnaden ist 800 Jahre alt

 

Erschienen am 5.7.2007 unter der Überschrift "Kirche in Gottesgnaden ist 800 Jahre alt"

 

2007 jährt sich zum 800. Mal die Weihe des einzigen erhalten gebliebenen Sakralgebäudes der romanischen Stiftsanlage „Gratia Dei“, einer Hospitalkirche, welche heute noch als Kirche des zu Calbe gehörenden Ortsteiles „Gottesgnaden“ genutzt wird.

Ende des 12. Jahrhunderts hatte Prior Bernhard, der Stellvertreter des Propstes Heidenreich, "aus seinen eigenen Mitteln" eine Kapelle, die zu einer Hospitalanlage außerhalb der Klostermauern gehörte, errichtet. Hospitäler waren die Herbergen, Sozialstationen und Krankenhäuser des Mittelalters. Hier wurden die durchreisenden Pilger, die Alten und Kranken versorgt. Neben der begehrten klostermedizinischen Versorgung kam es den Hilfsbedürftigen auf den geistlichen Beistand in der Kapelle an. Für die Hospital-Anlage war ein "Hospitalarius", ein Hospital-Vorsteher, verantwortlich, der zum Vorstand des Stiftsklosters gehörte.

Schon seit längerem gab es ein Hospital mit Kapelle innerhalb der Stiftsmauern, das jedoch wegen des ständigen „Durchgangsverkehrs“ den Frieden der Stiftsherren und Laienbrüder empfindlich störte. Deshalb existierte schon seit einigen Jahrzehnten der Plan, das Hospital vor die Mauern zu verlegen, bis schließlich Bernhard zur Rettung seines Seelenheils einen großen Teil seines Vermögens stiftete, mit dem die kleine Kirche vor dem Tor von „Gratia Dei“ erbaut werden konnte.

Das neue Kirchlein wurde 1207 von Erzbischof Albrecht I. Graf von Käfernburg (Thüringen) der Heiligen Jungfrau Maria und dem Evangelisten Johannes geweiht. Der in Paris und Bologna ausgebildete Albrecht war ein bedeutender Parteigänger der Staufer. Erzbischof Albrecht ließ nach den schrecklichen Vernichtungs-Feldzügen der welfischen Gegner Heimatlose in der Magdeburger Neustadt aufnehmen und dieses Territorium in die aufsteigende Handels-Metropole einbeziehen. Seit 1222 Stellvertreter Kaiser Friedrichs II. in Oberitalien, setzte sich Albrecht für die Aufrechterhaltung des Friedens zwischen Kaiser und Papst ein.

Die Gottesgnadener Mariae-und-Johannis-Kirche lässt besonders am Turm die alten romanischen Stilformen noch deutlich erkennen. Der im Wesentlichen unveränderte so genannte Sachsenturm ist im romanischen Stil erhalten geblieben; er trägt ein Satteldach und ist mit gekuppelten Rundbogenfenstern, die jeweils von einer Säule mit romanischen Würfelkapitellen geteilt werden, versehen. Das Langhaus wurde 1710 nach einem Brand teilweise gotisch umgebaut und erweitert. Aus der ehemaligen Hospital-Kapelle wurde eine Dorfkirche für das preußische Domänen-Amt.

Auch das Innere dieser Kirche ist historisch interessant. Bedeutsam sind die Grabsteine der beiden letzten Pröpste von „Gratia Dei“, des letzten offiziellen katholischen und des einzigen evangelischen. Johann de Pusco hatte als Katholik der Einführung der Reformation aufgeschlossen gegenüber gestanden. Die Übersetzung seiner lateinischen Grabinschrift lautet:

„Im Jahr des Herrn 1553 am 24. Februar starb der Ehrwürdige Herr Johannes de Pusco, Propst dieses Klosters, im 60. Lebensjahr, hier bestattet, dessen Seele in Frieden ruhe! Amen!"

Sein Nachfolger, Propst Lambert Werner, trat dienstbeflissen, als sein „Chef“, Erzbischof Sigismund Markgraf von Brandenburg, 1553 evangelisch wurde, ebenfalls zum Protestantismus über. Die einfache Inschrift auf Lambert Werners Grabstein heißt übersetzt:

„Lambert Werner, Propst in Gottes Gnade, starb 1563.“

Nach diesem letzten, dem einzigen evangelischen Propst wurde das sich ohnehin in einem desolaten Zustand befindende, einst europaweit führende Stiftskloster aufgelöst und der Wirtschaftstrakt von einem weltlichen Amtmann verwaltet. Dass die beiden Pröpste in der kleinen Hospitalkapelle und nicht wie ihre Vorgänger in der großen Basilika bestattet wurden, ist auf den im 16. Jahrhundert bereits vorangeschrittenen Verwahrlosungs-Zustand der Stiftskirche zurückzuführen.

Übrigens heiratete der erfolgreiche Montan-Unternehmer Hugo Sholto Douglas (1837-1914), Spross aus einer protestantisch-reformierten Einwanderer-Familie, der u.a. die bedeutende Grube „Alfred“ gegründet und zum Erfolg geführt hatte, 1865 in der Mariae-und-Johannis-Kirche der Domäne Gottesgnaden Jenny Amalie Reisner.

Es lohnt sich auch, Grabmäler im Gelände an der alten Kirche zu betrachten. 1927 wurde zum Beispiel ein Denkmal für die elf im Ersten Weltkrieg gefallenen Gottesgnadener errichtet, welches zugleich an den 720. Jahrestag der Kirchweihe erinnerte.

 

Literatur:

Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 16.

Dietrich, Max, Calbenser Ruhestätten, (Calbe) 1894.

FamilySearch Internet Genealogy Service.

Hertel, Gustav,Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Hävecker, Johann Heinrich, Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Acken und Wantzleben Wie auch des Closters Gottes Gnade ..., Halberstadt 1720.

Regesta Archiepiscopatus Magdeburgensis. Sammlung von Auszügen aus Urkunden und Annalisten zur Geschichte des Erzstifts und Herzogthums Magdeburg, hrsg. von George Albert Mülverstedt, Bd. 2, Magdeburg 1881.

Reccius, Adolf, Chronik der Heimat (Urkundliche Nachrichten über die Geschichte der Kreisstadt Calbe und ihrer näheren Umgebung), Calbe/Saale 1936.

Winter, Franz, Die Prämonstratenser des zwölften Jahrhunderts", Berlin 1865.

 

 

 

 

Ein Kanal von Calbe nach Schönebeck-Frohse

 

Erschienen am 31.7.2007 unter der Überschrift "Vor 280 Jahren scheiterte ein Kanalbauprojekt"

 

Verlauf des geplanten Kanals

Vor 280 Jahren versetzte ein Kanalbauprojekt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. (1688 – 1740) die Bürger von Calbe und Schönebeck in Aufregung. Was hatte den für seine Knauserigkeit bekannten Monarchen dazu veranlasst, ein solch kostenintensives Unterfangen in die Wege zu leiten?

Das Elbe-Saale-Mündungsgebiet bei Barby befand sich als Enklave inmitten preußischen Territoriums in der Herrschaft des Herzogs von Sachsen-Barby, einer dynastischen Nebenlinie des Kurfürstentums Sachsen, dessen Oberhaupt August II. „der Starke“ (1670 – 1733) war. Der rege preußische Handelsverkehr mit Salz aus Schönebeck und Halle sowie mit Holz und Kohle erlitt durch die sächsischen Zölle bei Barby empfindliche finanzielle Verluste. Außerdem mäandrierten Saale und Elbe in diesem Bereich stark, das heißt, ihr Verlauf war geschwungen und kurvenreich, was die Fahrtzeiten deutlich verlängerte.

Friedrich Wilhelm I. hatte sich deshalb in den Kopf gesetzt, nicht nur die Fahrteffektivität zu erhöhen, sondern auch den konkurrierenden Sachsen ein Schnippchen zu schlagen, indem er einen Kanal von der Saale in Calbe bis zur Elbe nahe Frohse bei Schönebeck bauen ließ, um so die Mäander und den sächsischen Außenposten zu umschiffen. Damit musste der preußische Monarch aber nicht nur in Konflikte mit dem Hof in Dresden kommen, sondern auch mit dem Fürsten Johann August von Anhalt-Zerbst, einem Onkel der späteren russischen Zarin Katharina II., dem unter anderem auch das Gebiet um Groß- und Klein-Mühlingen gehörte. Diese Enklave im preußischen Herzogtum Magdeburg wurde bei dem Projekt unweigerlich durchschnitten. Unter solch schlechtem Stern drohender Kontroversen mit zwei nachbarlichen Territorial-Mächten wurde der Kanalbau in Angriff genommen.

Vom Chefarchitekten Gerhard Cornelis Walrave waren 200000 Taler Baukosten veranschlagt worden, die erste Zahlung von vorläufig 50000 Talern erfolgte im Juni 1726. Arbeitswerkzeug mussten die Zeughäuser in Berlin und Magdeburg bereitstellen. Um wenigstens 5000 Taler zu sparen, kam der königliche Befehl, die Steine der schon halb abgebrochenen Stiftskirche in Gottesgnaden zum Bau der geplanten 5 Schleusen zu benutzen. Die Strecke war in 139 Stationen zu je 123 Längenmetern eingeteilt worden. Die Kanaltiefe sollte durchschnittlich etwa 5 Meter betragen, die Breite an der Sohle 10 Meter.

Beim Baubeginn in Frohse am 3. Februar 1727 mit über tausend Arbeitern waren die neu ernannten Kanalbau-Kommissionsräte Fürst Leopold II. von Anhalt-Dessau (der "Alte Dessauer") sowie Kollern und Wernicke anwesend. Drei Wochen später arbeiteten schon 2500 Männer mit Hacken, Spaten, Schaufeln, Schubkarren, Rammen und Pumpen an dem Projekt. Von ihrem Arbeitslohn zahlte man ihnen immer nur einen geringen Teil aus, damit sie auch bis zum Schluss beim Kanalbau blieben.

Ende März hatte der Kanalgraben Calbe erreicht. Deshalb fand am 1. April ein Ortstermin aller Hauptverantwortlichen mit Fürst Leopold II. in Calbe statt, um den Kanalverlauf bei möglichst geringem Häuserverlust festzulegen. Das Kanal-Bett sollte an der Westseite der heutigen Magdeburger und Arnstedt-Straße entlangführen, in der Höhe des jetzigen Feuerwehrdepots nach Osten abbiegen, den nördlichen Teil des Friedhofes an der  St.-Laurentii-Kirche durchschneiden und südlich vor dem Wehr in die Saale münden.

"Der Kanal" an der heutigen L 65

Am 2. Mai trennten den Kanal nur noch wenige Meter von der Saale. Man erwartete den Ausbau der Schleusen und die Durchstiche bei Frohse und Calbe.

Da passierte das Unerwartete.

Die Arbeiten am Kanal wurden am 28. Juli bis auf weiteres eingestellt und alle Arbeiter entlassen. Schließlich gab der König 1730 zerknirscht mit den "preußisch" knappen Worten auf: "Soll cessiren [aufhören] - schade daß das Geld soll in Dreck geschmissen werden." Wahrscheinlich waren diplomatische Interventionen und hohe Entschädigungsforderungen des Fürsten von Anhalt-Zerbst für die Nutzung seiner Mühlinger Enklave eine der Ursachen für den Abbruch. Hauptsächlich steckten aber wohl die Drohungen Augusts des Starken, des mächtigen kursächsischen Herrschers, dahinter, die Friedrich Wilhelm I. in die Knie gezwungen hatten. Auch die Berechnung der erheblichen Erhaltungskosten des rund 17km langen Kanals könnte zu der Entscheidung mit beigetragen haben.

Noch zwei Mal wurde die Projektvollendung in Betracht gezogen, bis 1810 das negative Gutachten des Schönebecker Salinendirektors die Regierung von einem solchen Kanal endgültig Abstand nehmen ließ.

Allmählich beseitigte man wieder die Grabungsspuren. Der Landgraben (heute noch im Volksmund "der Kanal") an der heutigen „Kanalstraße“ (L65) zwischen Calbe und Schönebeck, Teile des Schönebecker Solgrabens und der Hafen in Frohse sind Relikte des gescheiterten Elbe-Saale-Kanals.

Bei der Zuschüttung des Kanalgrabens auf dem Lorenzfriedhof in Calbe ließ man wohl nicht die genügende Sorgfalt walten, denn bei dem Versuch einer anschließenden Planierung blieb das Erdreich ungleichmäßig liegen. Auch die Kirche wurde ringsherum mit Erde eingeschüttet. Dadurch liegt ihr Fußboden tiefer, so dass man heute in sie hinunter steigen muss.

 

Literatur:

Dietrich, Max, Calbenser Ruhestätten, Calbe 1894.

Hertel, Gustav, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Steinmetz, Dieter Horst, Auf historischer Spurensuche - Ein Stadtrundgang in Calbe an der Saale (URL: http://members.fortunecity.de/steinmetz41/), Station 20. [Website umgezogen, heute: http://calberundgang.kilu.de/ Station 5)] 

 

Luther und die Thesen

 

Erschienen am 23.10.2007 unter der Überschrift "Martin Luthers Brief im Schloss Calbe geöffnet"

 

Albrecht IV.

Martin Luther

Der 34-jährige Wittenberger Theologiedozent Dr. Martin Luther schlägt am 31. Oktober 1517 in heller Empörung über den Ablasshandel sein konträres Diskussionspapier in Form von 95 Argumentations-Punkten an die Wittenberger Schlosskirche und löst damit die folgenschwere Reformationsbewegung aus.

So ist es allgemein seit fünf Jahrhunderten bekannt. Luthers Hammerschläge gelten quasi als das Startsignal für eine bahnbrechende konfessionelle, aber auch soziale und politische Umwälzung.

Ganz so schön anekdotisch und dramatisch war es aber nicht.

Die zu Beginn des 16. Jahrhunderts ganz allgemein üblichen Praktiken des Ablass-, Reliquien- und klerikalen Ämterhandels, aber auch die Aktivitäten kirchlicher Institutionen wie u. a. des Prämonstratenser-Stiftes „Gottes Gnade“ bei Calbe als Bank- und Maklerhäuser, beschworen eine immer breitere Kritikwelle herauf, und nicht nur die Klöster hatten erhebliche Nachwuchssorgen.

Der junge Augustiner-Mönch Martin Luther gelangte nach langen inneren Auseinandersetzungen zu der Überzeugung, dass die Menschen nicht durch ihre materiellen Aktivitäten, sondern allein durch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes („sola gratia“) Erlösung von ihren Sünden erlangen könnten.

Liebe des Allmächtigen statt Loskauf der Sünder - das war umwälzend und musste die Menschen bis ins Mark erschüttern.

Diese durchgreifende Erkenntnis und die daraus resultierende Ablehnung jeglicher geistlicher Ablassgeschäfte wollte Luther einflussreichen Männern vermitteln. Am Vortag von „Allerheiligen“ 1517 war er zu diesem Schritt bereit. Martin Luther schickte an den mächtigsten Kleriker im Reich, den 27-jährigen Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Albrecht IV., ins Schloss von Calbe einen geradezu flehenden und schmeichelnden Brief, Albrecht möchte doch den Ablasshandel verbieten. Luther legte auch in Kurzform die Gründe dar, die gegen die kommerzielle Sünden-Tilgung sprachen. Ja, er führte dem Kirchenfürsten vor Augen, welche revolutionären Gefahren für die Kirche aus diesem klerikalen Geldbetrug erwachsen würden. Seine Thesen hatte er beflissentlich als Diskussionspapier beigelegt.

Es gilt als sicher, dass Luther auf keinen Fall - etwa durch einen Thesenanschlag - das Volk oder zumindest die akademische Jugend gegen den Ablasshandel aufwiegeln wollte. Aufgebracht war das ausgeplünderte Volk ohnehin, in Magdeburg wurden Mönche verhöhnt und bedroht, und Albrecht hatte sich sicherheitshalber nach seiner Zweitresidenz Calbe abgesetzt. Ganz im Gegenteil wollte Luther vermitteln und die Kirchenführer von ihrem verderblichen Kurs abbringen. Das Gespräch unter gebildeten und verständigen Männern sollte das Schlimmste verhindern. Der Brief wurde am 16. November im Schloss Calbe von den erzbischöflichen Räten geöffnet, weil sich Albrecht zu diesem Zeitpunkt gerade im weniger rebellischen Mainzer Gebiet aufhielt. Er antwortete auf diesen, ihm nachgesandten Brief nicht, ließ aber Luther durch seinen Statthalter, Graf Botho von Stolberg, eine Rüge erteilen. Nachdem Albrecht den Wittenberger Theologen beim Papst wegen Ketzerei denunziert hatte und Luther so gegen seinen Willen zum Frontmann einer religiösen und politischen Bewegung wurde, wandelten sich die bescheidenen Reformbestrebungen des demütigen Mönchs zur gewaltigen Reformation, nicht zuletzt dadurch, dass im März 1518 das Anliegen Luthers von seinen Anhängern auch in deutscher Sprache als Buch verbreitet wurde.

Rörer-Notiz

Zehn Monate bevor Luther mit der Verbrennung der päpstlichen Bann-Bulle den endgültigen Bruch mit Rom vollzog, schrieb er noch einmal am 4. Februar 1520 an den inzwischen zum Kardinal erhobenen Albrecht und bat ihn mit schmeichelnden Worten, seinen von jedermann gerühmten Verstand und seine Güte walten zu lassen, um den Verleumdern gegenzusteuern. Diesmal erreichte der Brief Albrecht im Schloss Calbe. Von dort aus antwortete er auf den zweiten Brief Luthers so grob, dass sich Luther über die „harte, unartige, unbischöfliche und unchristliche“ Ausdrucksweise des Kardinals beschwerte. Nun wurde auch Luthers Ton barscher, und er empfahl dem wegen seiner Liebesaffären bekannten Renaissance-Potentaten unter anderem, er „möge sich lieber vermählen“.

Es waren also gewiss nicht die Hammerschläge Luthers an der Wittenberger Schlosskirche, welche die Welt erschütterten, sondern schon eher die donnernden Pferdehufe eines Postreiters, der zum Schloss Calbe eilte.

Die publikumswirksame Thesenanschlags-Szene wurde nachweislich von Georg Rörer, einem Assistenten Luthers, 1541 niedergeschrieben. Die Anfang 2007 in der Universitätsbibliothek Jena in einer Luther-Bibel gefundene lateinische Notiz lautete übersetzt:

"Im Jahr 1517 am Vorabend der Allerheiligen sind in Wittenberg an den Türen der Kirchen die Thesen über den Ablass von Doktor Martin Luther vorgestellt worden."

Der Haken an der Sache aber war, dass Rörer zum „Tatzeitpunkt“ noch in Leipzig studierte und erst 1522 nach Wittenberg kam. Der Satz wurde ein Viertel-Jahrhundert später niedergeschrieben, als die protestantische Bewegung fest im Sattel saß und die Legendenbildung voll eingesetzt hatte. 1546 übernahm Philipp Melanchthon, der Weggefährte Luthers, der auch erst 1518 nach Wittenberg gekommen war, nach dessen Tod die schöne Geschichte und fügte noch die schallenden Hammerschläge hinzu, als er an der Legende über die Entstehung der Reformation zu weben begann.

Schon damals wusste man, wie man eine gute Story mit eindrucksvollen Glanzlichtern versehen konnte.

 

Literatur: 

Hävecker, Johann Heinrich, Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Acken und Wantzleben Wie auch des Closters Gottes Gnade ..., Halberstadt 1720.

Hertel, Gustav, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Iserloh, Erwin, Luther zwischen Reform und Reformation. Der Thesenanschlag fand nicht statt, Münster 1966.

Krämer, Walter/Trenkler, Götz, Lexikon der populären Irrtümer, Frankfurt am Main 1996.

Nachlass von Georg Rörer, in: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Abteilung Handschriften und Sondersammlungen (URL: http://www.thulb.uni-jena.de/nachlass_roerer-skin-print_thulb.html).

Prause, Gerhard, Luthers Thesenanschlag ist eine Legende. In: Niemand hat Kolumbus ausgelacht - Fälschungen und Lügen der Geschichte richtig gestellt, Düsseldorf 1966.

Ritter, Gerhard, Luther - Gestalt und Tat, Frankfurt am Main 1985;

Rocke, Gotthelf Moritz, Geschichte und Beschreibung der Stadt Calbe an der Saale, 1874.

 

 

Historische Wurzeln unseres heutigen Weihnachtsfestes

 

Erschienen am 24.12.2007 unter der Überschrift "Weihnachtsmann-Mantel war einst dunkelgrün"

 

"Herr Winter" von Moritz Schwindt

Weihnachtspostkarte 1900

Eine Tatsache sei gleich vorweg genannt: Das Weihnachtsfest, wie es heute die meisten deutschen Familien begehen, ist nicht Jahrhunderte alt, sondern eine „Kreation“ des deutschen Bürgertums aus dem 19. Jahrhundert, als man sich im Zeitalter der Romantik und des Biedermeier - enttäuscht von der politischen Entwicklung - in die „heile“ Welt der Familie und häuslichen Geborgenheit zurückzog.

Bei dem beliebtesten Familienfest stehen bei uns im norddeutschen, vorwiegend protestantischen Bereich im Wesentlichen vier Attribute im Vordergrund: ein geschmückter Nadelbaum (Weihnachts- bzw. Christbaum) mit Kerzen, ein Weihnachtsmann, die für Kinder besonders wichtigen Geschenke und oft auch der Besuch der Christvesper in der Kirche.

Seit dem 12. Jahrhundert ist der Begriff Weihnacht (mittelhochdeutsch „wîhe naht“ = heilige Nacht) quellenmäßig belegt. Gemeint ist die Nacht der Geburt Christi. Dabei war man sich seit dem 4. Jahrhundert in Kreisen der „Kirchenväter“ einig, dass Jesus Christus, obwohl es keine biblischen Belege für dieses Datum gibt, am 25. Dezember geboren wurde. Man ging sicherlich in einer Zeit, als noch auf astronomisch-astrologische Sternkonstellationen geachtet wurde, von dem alten Fest der Wiedergeburt der unbesiegbaren Sonne („Sol invictus“) aus. Eine Rückführung auf das germanisch-keltische Julfest der Wintersonnenwende kann historisch nicht belegt werden; möglicherweise gibt es aber auch dorthin traditionelle Vernetzungen auf schriftlich nicht fixierten Ebenen.

Calbe besaß im Norden vor der Stadt einen archaischen Frauen-Kultplatz, den Mägdesprung, auf dem wahrscheinlich wie auf analogen Plätzen im Harz, im Taunus und im Ostseeraum u. a. der kindlich-jungfräulichen Jul- bzw. Wil-Bet, der Göttin der Geburt und Auferstehung, gehuldigt wurde.

Auch das Frühlingsäquinoktium am 25. März spielte bei der Suche nach dem Geburtstag Christi eine Rolle. Das sollte der Tag der Empfängnis Marias sein, und da es im sakralen Bereich nur „vollkommene“ Zeiträume gibt, dauerte die Schwangerschaft exakt neun Monate, was zum Geburtstermin am 25. Dezember führte. Andere frühe Christen glaubten, - als es noch kein „wanderndes“ Osterfest gab - dass der Hinrichtungstag Christi mit dem Datum seiner Empfängnis im Mutterleib (25. März) übereinstimme, was natürlich auch zur Geburt des Heilands am 25. Dezember führte.

In der Nach-Reformationszeit, als es aus Sicherheits-Gründen verboten und verpönt war, sich nachts im schlecht beleuchteten Freien aufzuhalten, wurde die Heilige Nacht mit kirchlicher Christvesper – auch im Interesse der Bürgerkinder – kurzerhand zu einem Heiligen Abend am Vortag umfunktioniert.

Wie sieht es nun mit den anderen Attributen des heutigen Weihnachtsfestes aus? Unser im 15. Jahrhundert erstmals erwähnter Christbaum, der im 18. Jahrhundert immer beliebter wurde und wie der Adventskranz seit dem 19. Jahrhundert seinen festen Platz in den weihnachtlichen Bürgerstuben hat, geht auf verschiedene uralte Bräuche der hoffnungsvollen Erwartung der wiederkehrenden Sonne mit Hilfe immergrüner Gewächse zurück. Auch die an den Zweigen befestigten brennenden Kerzen drückten in einer Zeit ohne elektrische Beleuchtung die Sehnsucht nach dem Licht aus. Besonders intensiv wurde das Lichterfest bei den Bergleuten im Erzgebirge, die im Winter im Dunkeln ein- und ausfuhren, gefeiert. Ihre weihnachtlichen Kunstwerke - die Nussknacker, „Raachermännl“, Pyramiden und Schwibbögen - waren bald in ganz Deutschland beliebt. Seit dem  Mittelalter wurden bei Weihnachtsspielen in den Kirchen so genannte Paradiesbäume aufgestellt, an deren Zweigen süße Äpfel der Verführung hingen. Später, als geschmückte Tannenbäume in den Bürgerstuben ihren Einzug hielten, kamen auch andere Süßigkeiten hinzu.

Der Weihnachtsmann ist eine Schöpfung des protestantischen Bürgertums, der noch um 1840 „Herr Winter“ hieß. Er ist eine recht praktische Vereinigung des im süddeutsch-katholischen Raum als Einzelpersonen agierenden Weihnachts-„Personals“, in erster Linie des Erzbischofs Sankt Nikolaus, seines Gehilfen Knecht Ruprecht und des Christkindls im weißen Engelsgewand. (Dass das Christkind kein Knabe ist, sondern ein hübsches junges Mädchen, geht wohl auch auf einen keltisch-germanischen Ursprung mit Bezug auf die jungfräuliche Göttin Jul-Bet zurück.) Dem Heiligen Nicolaus von Myra als Patron der Kaufleute, Seefahrer und Kinder waren im Mittelalter gleich zwei Kirchen in und vor Calbe geweiht. Eine davon ist die heutige Neuapostolische Kirche, die andere stand in Hohendorf (heute: „Am Weinberg“). Als typischer Patriarch trägt unser jetziger Weihnachtsmann einen langen weißen Vollbart und eine Rute, die er von dem süddeutschen Ruprecht übernommen hat. Vom Knecht Ruprecht stammen auch der Mönchsmantel und die Kapuze. Noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatten die Weihnachtsmänner meist braune oder dunkelgrüne Kutten. Erst in den 1950-er Jahren setzte sich in Europa die nordamerikanische Santa-Clause-Variante in knallroter Kleidung durch.

Bescherung bei Marie und Philipp Nathusius um 1855

Weihnachten um 1900

Sich gegenseitig am Heiligen Abend und am Nikolaustag, in manch anderen Ländern am Neujahrstag oder am 6. Januar, zu beschenken, geht auch auf die alte vorchristliche Tradition des „Sol invictus“ und des nordischen Jul-Festes zurück. Vor nicht allzu langer Zeit waren die Geschenkgaben noch bescheiden und eher symbolischer Natur.

Beim Geschenkesammeln für die Weihnachtsbescherung der armen Waisenkinder ihrer Neinstädter Stiftung und den damit verbundenen Überlandgängen zog sich Marie Nathusius, die in Calbe ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, eine Rippenfellentzündung zu und starb - viel geliebt und betrauert - vor 150 Jahren, zwei Tage vor dem Heiligen Abend.

Besonders während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 sowie des Ersten und des Zweiten Weltkrieges bedeuteten die Weihnachts-Geschenkpäckchen, die nicht allein von der Liebe der Familie zu „ihren“ Soldaten, sondern ebenso von der tiefen Verbundenheit ganzer Gemeinden kündeten, weitaus mehr als nur einen materiellen Gruß aus der Heimat. Auch der Christbaum, oftmals unter abenteuerlichen Umständen „organisiert“, durfte in keinem Schützengraben und Unterstand bei den in Regen, Schnee und Eis ausharrenden Männern fehlen. In der kulturhistorischen Forschung gilt es als sicher, dass diese traumatischen Erlebnisse zur noch tieferen Verbundenheit der Deutschen mit „ihrem“ Weihnachtsfest und seinen Attributen beitrugen.

 

Literatur:

Oscar Cullmann, Die Entstehung des Weihnachtsfestes und die Herkunft des Weihnachtsbaumes; Stuttgart 1994.

Alexander Demandt, Der Ursprung des Weihnachtsfestes, in: ders.: Sieben Siegel. Essays zur Kulturgeschichte; Köln-Weimar-Wien 2005.

Ingeborg Weber-Kellermann, Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit; Luzern 1978.

Dieter H. Steinmetz, Geschichte der Stadt Calbe an der Saale (Ein Abriss - von den Anfängen bis 1918), URL:http://de.geocities.com/calbegeschichte/ersterweltkrieg.

 

2008

 

Bedeutender Politiker stürzte in Calbe zu Tode

 

Erschienen in zwei Teilen am 2.2. und am 7.2.2008 unter den Überschriften "Im Rathaus Calbe brach ein verheerender Brand aus" [sachlich falsch] und "Der Feuerruf stellte sich als blinder Alarm heraus". Eigentlich war der Artikel für den Februar 2007 zum 625. Jahrestag des Ereignisses vorgesehen.

 

Wenzel IV., Eb. Ludwig und Karl IV.

Am Rosenmontag (17.2.) des Jahres 1382 kam eine bedeutende politische Persönlichkeit im Rathaus von Calbe zu Tode. Erzbischof Ludwig von Mainz und Magdeburg, Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen, wurde bei einer Massenpanik, die während eines Fastnachts-Tanzvergnügens ausbrach, tödlich verletzt. Der Fall fand europaweit große Beachtung und rückte die Nebenresidenz- und Handelsstadt ins Blickfeld der „großen Welt“.

Wer war dieser Mann, dessen ungewöhnlicher Tod so große Aufmerksamkeit erregte? Der am 26. Februar 1340 geborene Ludwig stammte aus der angesehenen wettinischen Familie der Meißener Markgrafen, sein Großvater war Kaiser Ludwig der Bayer. Nach dem Tod des Vaters setzten die vier Brüder, die nun die Markgrafschaft gemeinsam regierten, auf Kaiser Karl IV., den sie in seiner Hausmachtpolitik, besonders beim Erwerb der Mark Brandenburg, unterstützten.

In dem krisengeschüttelten 14. Jahrhundert war Karl IV. gleichsam eine Lichtgestalt. Dieses Jahrhundert ging als Säkulum der Desaster, jedoch auch bedeutender kultureller und wirtschaftlicher Umbrüche in die Geschichte ein. Politische und kirchliche Krisen, Bevölkerungs-, Agrar- und Klimakrisen überlagerten sich wechselseitig. Päpste und Gegenpäpste bekriegten sich, Könige und Gegenkönige kämpften um die Vorherrschaft und verwüsteten Teile des Reiches, bis es dem Böhmen Vaclav aus dem Fürstengeschlecht der Luxemburger als deutschem König unter dem selbst gewählten, bedeutungsvollen Namen „Karl“ und als Kaiser Karl IV. gelang, diesem Spuk vorübergehend ein Ende zu bereiten und letztmalig im deutschen Mittelalter eine starke Zentralgewalt zu errichten.

Ludwig, der zweitjüngste der Markgrafen-Brüder, bestieg schon mit 17 Jahren seinen ersten Bischofsstuhl in Halberstadt, 9 Jahre später in Bamberg, wo er politisches Geschick, aber auch einen starken Hang zur prachtvollen Selbstinszenierung entwickelte.

1373 war ein Verwandter Kaiser Karls IV. – wie es hieß: durch einen Giftmord – früh gestorben, der die wichtigste Kurfürstenwürde innehatte, die des Erzbischofs von Mainz. Karl IV. brauchte nun dringend einen anderen ihm ergebenen Mann auf dem Mainzer Stuhl, weil er mit dessen Hilfe die Wahl seines Sohnes Wenzel zum deutschen König durchsetzen wollte. Er schickte deshalb Ludwig auf dem schnellsten Wege nach Avignon, wo die Päpste seit 1309 unter anderem aus Furcht vor der Gewalt des römischen Patriziats im Exil lebten, und wies den ihm ergebenen Gregor XI. an, Ludwig zum Erzbischof von Mainz zu ernennen. In der Zwischenzeit hatte aber ein anderer Anwärter die Initiative ergriffen. Der 20-jährige Adolph Graf von Nassau, der von einer Gruppe Kirchenfürsten des Mainzer Domkapitels ebenfalls zum Erzbischof gewählt worden war und dem man nachsagte, in den Giftmord verwickelt gewesen zu sein, besetzte mit einer starken Militärmacht der Fürstenopposition die Stiftsfestungen des Erzbistums in Thüringen und im Eichsfeld und verwüstete die Mark Meißen. Nun gab es außer den Doppelregierungen und Kirchenspaltungen, Schismen genannt, noch eine weitere verderbliche Gewaltenteilung, das Mainzer Schisma: Auf der einen Seite Ludwig ohne Bistumsbesitz und von einem Exil-Papst ernannt, aber vom Kaiser im Bündnis mit mehreren Städten gestützt, auf der anderen Seite Adolph, getragen von einer städtefeindlichen Fürstenopposition, aber im realen Besitz großer Teile des Erzbistums. Nachdem es den markgräflichen Brüdern mit Verbündeten gelungen war, Adolph in Erfurt einzuschließen, erschien Karl IV. selbst mit einem starken kaiserlichen Heer und zwang jenen zu einem Stillhalteabkommen, während dessen Ludwig als offizieller Erzbischof von Mainz und vorsitzender Kurfürst 1376 die Wahl von Karls Sohn Wenzel zum deutschen König arrangieren und vornehmen durfte.

Nach dem Tod Gregors XI. und Karls IV. im Jahr 1378 schlug die Gegenseite jedoch zu. Der neue Papst, der nun übrigens auch in einem durch einen Gegenpapst verursachten Schisma dahinregierte, enthob den „Königsmacher“ Ludwig seines erzbischöflichen Amtes und wollte ihn auf Nebenposten abschieben. Als sich dieser strikt weigerte, gelang es König Wenzel, der Ludwig verbunden war, gerade noch, einen Kompromiss herbeizuführen: Offizieller Erzbischof von Mainz wurde Adolph von Nassau, Ludwig von Meißen behielt lediglich diesen Titel, bekam aber zum Ausgleich den ebenfalls sehr begehrten Erzbischofsstuhl von Magdeburg. Damit war Ludwig quasi Adolphs Stellvertreter. Wäre Adolph von Nassau etwas zugestoßen, hätte Ludwig als Erzbischof von Mainz und Magdeburg eine enorme Machtfülle in den Händen gehalten, was übrigens anderthalb Jahrhunderte später dem durch die großartige Ausstellung in Halle (2006) wieder allgemein bekannt gewordenen Albrecht IV. gelungen war.

Altes Rathaus von Calbe

Der neue Magdeburger Erzbischof Ludwig stieß in der Stadt, in die er in einem prachtvollen Spektakel mit tausend Pferden eingezogen war, auf heftigen Widerstand der sich emanzipierenden Bürger. Deshalb hielt er sich viel lieber in der Nebenresidenz Calbe auf und feierte dort auch nach einer halbjährigen Amtszeit ein Fastnachtsfest, zu dem er 300 Gäste - Fürsten und Herren mit ihren Damen – eingeladen hatte. Der Erzbischof orderte für diesen Ball den Tanzsaal im Obergeschoss des 1376 neu erbauten Rathauses. Am Rosenmontag erschallte hier gegen 21 Uhr plötzlich, während Ludwig mit seiner Dame den Reigen vergnügter Tänzerinnen und Tänzer anführte, der Schreckensruf: „Feuer, Feuer!“ Die vielen Festgäste hasteten in wilder Panik zur Treppe, der Erzbischof mit seiner Dame vornweg. Auf der Treppe stolperte er, und die Menschen stürzten über ihn. Er wurde so schwer verletzt, dass er am nächsten Tag verstarb. Um das Ressentiment der Magdeburger nicht erneut zu provozieren, wurde die Leiche Ludwigs von seinen Brüdern, die auch beim Fest zugegen gewesen waren, in aller Heimlichkeit in Magdeburg an einem geheim gehaltenen Ort, vielleicht im Dom oder im Erzbischofs-Palast, beigesetzt.

Reigentanz um 1400

Nun war durch das Unglück das Problem des Mainzer Schismas gelöst. In Magdeburg, Thüringen und anderswo tauchten Berichte über den „Fastnachtstanz von Calbe“ auf, die sich oft erheblich in der Darstellung der Ursachen und Folgen der Massenpanik unterschieden. Aber in einem Punkt waren sich alle „Berichterstatter“ einig: Der Feuer-Ruf war ein blinder Alarm gewesen. Einige wollten sogar erkannt haben, dass der Teufel selbst gerufen und so den Tod Ludwigs verursacht hätte. Das calbische Protokoll dieses europaweit beachteten Vorfalls ist verschwunden, wie schon J. H. Hävecker erstaunt feststellte.

In jener Zeit tauchte dann auch noch eine Legende auf, die sich nur auf  Erzbischof Ludwig, lateinisch Ludovicus, und seinen prachtvollen, sinnenfrohen Lebensstil beziehen kann. Angeblich hätte eine Geisterstimme drohend gewarnt: „Fac finem ludo, lusisti nunc satis Udo!“ Übersetzt heißt das etwa: „Mach Schluss mit dem Vergnügen, du hast dich nun genug amüsiert, Udo!“

Es gab demnach ein nachdrückliches Interesse daran, den unglückseligen Tod Ludwigs als Strafe höherer Mächte für seinen „unchristlichen“ Lebenswandel darzustellen. Immerhin profitierten mindestens drei politische Kräfte vom Ableben des Erzbischofs von Magdeburg und Mainz. Bei jeder heutigen Ermittlungsbehörde würden angesichts dieser Umstände die Alarmglocken schrillen. Aber für die Historiker gilt ebenso wie für die Juristen das Prinzip der Unschuldsvermutung. Da die Quellenlage es nicht anders hergibt, müssen wir den tragischen Tod des Erzbischofs und „Königsmachers“ Ludwig in Calbe vor 625 Jahren als die Folge unglücklicher Umstände ansehen.

Nachtrag: Acht Jahre nach Ludwig starb auch sein Gegner Adolph von Nassau 47-jährig plötzlich unter großen Schmerzen.

 

Literatur:

Bautz, Friedrich Wilhelm: Adolph I., in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1.

Hävecker, Johann Heinrich: Chronica und Beschreibung der Städte Calbe, Acken und Wantzleben..., Halberstadt 1720.

Hertel, Gustav: Geschichte der Stadt Calbe an der Saale, Berlin/Leipzig 1904.

Liliencron, Rochus Freiherr von: Adolf I., in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1.

Reccius, Adolf: Chronik der Heimat, Calbe/Saale 1936.

Will, o. Vn.: Ludwig, Erzbischof von Mainz und Magdeburg, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 19.

 

 

Die Geheimnisse der Turmknöpfe der Calber Stadtkirche "St. Stephani" sind gelüftet

Erschienen in drei Teilen am 3.3., 7.3. und am 22.8.2008 unter den Überschriften "Gläserne Zeitkapsel gut bestückt", "1678 wurde das Kirchendach neu eingedeckt" und "Dokumente zur Turmknopföffnung im Archiv der Heimatstube Calbe". Die Artikelserie war ursprünglich völlig anders konzipiert. Die Schönebecker Redaktion nahm jedoch Umstellungen und Kürzungen vor, was u.a. zu unangenehmen Doppelungen führte.

Die massive „Eroberung des Wilden Westens“ hat noch nicht begonnen; John Franklin und seine Besatzung kommen bei dem Versuch ums Leben, den nördlichen Seeweg vom Atlantik in den Pazifik zu finden; mehr als eine halbe Million Iren sterben bei einer verheerenden Hungersnot, und eine Million Menschen wandern aus Irland aus. In England wird erstmals die Äthernarkose angewandt; und in Dresden findet die Uraufführung der Oper „Tannhäuser“ von dem 32-jährigen Richard Wagner statt.
Durch Calbe fließen stinkende Abwasser-Kanäle, Trinkwasser holt die Bevölkerung an Schwengelpumpen; Fabriken verbreiten in und außerhalb der Stadt Lärm und Smog. Die Fabrikarbeiter wohnen in den beiden Vorstädten, die den Status von Dörfern haben. Nachts muss man noch mit Handlaternen den Weg durch die Stadt suchen, denn eine bescheidene Straßenbeleuchtung gibt es erst 9 Jahre später. Calbe ist 1815 Kreisstadt geworden und besitzt eine Stadtverordneten-Versammlung. Immerhin ist die Stadt mit dem Bahnhof Grizehne seit 5 Jahren an eine der ersten deutschen Eisenbahnen angeschlossen.
Der praktische Arzt Dr. Wilhelm Loewe, der argwöhnisch von Metternich-Spitzeln beobachtet wird, gründet in Calbe einen liberalen Diskutierklub und hält Vorträge nicht nur über Hygiene, sondern auch über verbesserungswürdige politische Zustände. Pfarrer Leberecht Uhlich, der Führer der rapide anwachsenden demokratischen Bewegung der „Lichtfreunde“, hält hier ebenfalls Vorträge.
In Calbe beginnt es ein Jahr nach dem Aufstand der schlesischen Weber und drei Jahre vor der Revolution 1848/49 zu brodeln.
Eine längst vergangene, 163 Jahre zurückliegende Zeit tut sich da vor uns auf, die wir bestenfalls noch aus Schullehrbüchern, vielleicht auch aus nachgestellten Filmen kennen.
Was hat dieser Blick in die Vergangenheit mit uns und unserer Realität in Calbe zu tun?
Im Jahr 2007 wurden anlässlich umfassender Turmsanierungsarbeiten an der Stadtkirche „St. Stephani“ die Turmknöpfe geöffnet. In dem südlichen Knopf befand sich nichts, aber die gläserne „Zeitkapsel“ des nördlichen erwies sich als gut bestückt. Nach 162 Jahren war es uns plötzlich möglich, Botschaften aus einer für die meisten von uns vergessenen Epoche zu empfangen. Regionalhistoriker wie Gustav Hertel, Max Dietrich und Adolf Reccius hätten uns angesichts dieses großartigen Augenblicks beneidet. Wir aber hatten ein solches Glück, das im Allgemeinen nur etwa alle 150 bis 170 Jahre auf die CalbenserInnen zukommt, nämlich dann, wenn an den Turmspitzen etwas saniert werden muss.
1845 wurde wegen eines vermuteten Schadens an der nördlichen Turmspindel der Stephanskirche der Turmknopf abgenommen. Dabei fand man in einem Kistchen eine handschriftliche Nachricht aus dem Jahr 1678, die aber schon stark vermodert war. Eine Handschrift gleichen Inhalts war 1741 bei der Sanierung der südlichen Turmspitze entnommen worden. Diese Botschaft hatte man 1678 bei der General-Reparatur des Kirchendaches in jedem Turmknopf hinterlegt. Nun wird auch klar, warum bei der Öffnung des südlichen Turmknopfes 2007 zur allgemeinen großen Enttäuschung nichts gefunden wurde: Das Papier war 1741 entnommen worden. Dass beide Dokumente heute verschollen sind, erweist sich jetzt aber als nicht mehr so schlimm, denn wir haben ja aus der Nordkapsel eine Abschrift des barocken Textes seitens unserer Informanten von 1845.

Sichtung des Turmknopfinhaltes im August 2007

Was war aber außer der Abschrift der Nachricht von 1678 noch als Botschaften und „Souvenirs“ von 1845 in der Zeitkapsel enthalten?
Ähnlich wie das 1678 geschehen war, schrieb der Magistrat einen vom Bürgermeister Kleist unterzeichneten handschriftlichen Bericht über den kommunalpolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zustand der Stadt Calbe im Jahr 1845.
Sowohl der Bericht aus dem 17. als auch der aus dem 19. Jahrhundert geben uns interessante Einblicke in die Erfolge, aber ebenso in die Sorgen und Nöte der damaligen Einwohnerschaft, die uns menschlich berühren. Bedeutsam an beiden ist u. a., dass sie uns vor Augen führen, welch großen Wert die Bürgerschaft Calbes auf eine gute Bildung und Erziehung legte. Mehr soll aber noch nicht verraten werden.
Da seit Beginn des 19. Jahrhunderts das Zeitungswesen, nicht zuletzt durch dampfmaschinengetriebene Druckmaschinen, einen enormen Aufschwung genommen hatte, hinterließen uns die Vorväter eine ganze Reihe von tagesaktuellen Zeitungen mit regionaler und gesamtdeutscher Bedeutung, wohl um uns auch ihr politisches Interesse und ihre liberalen Ambitionen zu demonstrieren. Sieht man sich an, was das für Zeitungen waren und welchen Inhalt sie publizierten, kann man deutlich den freisinnigen Standpunkt der Bürger von Calbe im Sog der damaligen antifeudalen Oppositionsbewegung herausfühlen. Außer den 5 bürgerlichen Zeitungen und dem Amtsblatt mit Regierungsverordnungen gab es noch andere Druckerzeugnisse in der Zeitkapsel, die uns einen Einblick in das sich während der Biedermeierzeit entwickelnde gesellige Leben und in die sozialhygienischen Verhältnisse in der Stadt verschaffen. Wir nehmen teil an der Solidarität für die Geschädigten des großen Hochwassers von 1845, sehen einen Vorläufer des erst sieben Jahrzehnte später eingeführten Personalausweises und können in den Bürgerlisten viele Namen entdecken, die es heute noch in Calbe gibt, usw. usw.
Damit möglichst viele Calbenser einen Blick in die Zeitkapsel tun können, wurde ab Februar mit freundlicher Erlaubnis der Evangelischen Kirchengemeinde Calbe der Inhalt in der Heimatstube ausgestellt, wobei jedes der über 20 originalen Dokumente ausführlich erläutert und in einen historischen Kontext gestellt wird. Das Thema der Ausstellung lautet: „Biedermeierliche Gemütlichkeit und bürgerliches Aufbegehren - Das Geheimnis der Kirchturmknöpfe“! 2007 konnten die Calbenserinnen und Calbenser Zeugen eines Ereignisses werden, das nur in Abständen von rund 170 Jahren zu bestaunen ist: die Öffnung der so genannten Zeitkapseln in den Turmknöpfen der Stadtkirche „St. Stephani“ zu Calbe. Während im südlichen Knopf nichts zu finden war, erwies sich der nördliche als gut bestückt. Aus ihm kamen am 23. August Dokumente zutage, die 1845 anlässlich einer Zustandskontrolle der Nordturmspindel in ein danach gut verschlossenes Lebensmittelglas gelegt worden waren. Die beiden Hauptschriftstücke stellen kurze Situationsbeschreibungen der Stadt und der allgemeinen Lage aus den Jahren 1845 und 1678 dar.

Die Stadtväter hatten nämlich 1845 die Abschrift eines (beschädigten) Dokumentes von 1678 beigelegt, das sich ihnen beim damaligen Öffnen der Kapseln darbot. Das gleiche Schriftstück als Duplikat war schon 1741 bei einer Sanierung des Südturmes entnommen worden, weshalb man dort 2007 nichts fand.
So können wir Blicke in gleich zwei Epochen der Stadtgeschichte tun: die Zeit zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der brandenburgisch-preußischen Herrschaft sowie in die Zeit des Biedermeier und Vormärz kurz vor der 1848-er Revolution. Die Ausstellung dazu wird in der Heimatstube Calbe/Saale bis Ende März dieses Jahres zu sehen sein.
Die Abschrift des Schriftstückes von 1678 stellt uns nicht nur die Verwaltung der Stadt kurz vor der brandenburgischen Machtübernahme und die stolz gehüteten juristischen Befugnisse – insbesondere das Ausübungsrecht der niederen Gerichtsbarkeit und das Braurecht - vor, sondern lässt uns auch an den Sorgen und Bedenken der Calbenser jener Zeit teilhaben. So erfahren wir u.a., dass 1678 das Dach der Kirche völlig neu eingedeckt werden musste, die Bürger aber Schwierigkeiten hatten, das Geld dazu aufzubringen. Drei Jahrzehnte nach dem Dreißigjährigen Krieg waren die Menschen immer noch in Angst und Sorge über die von Frankreich ausgehenden Kriege, die Europa erschütterten. Die Betonung der orthodox-lutherischen Haltung der Bürger weist auf die Kontroversen mit den benachbarten reformierten Protestanten der anhaltinischen Gebiete und den immer wieder angefeindeten Krypto-Calvinisten hin. In der Reihe der namentlich aufgezählten Funktionsträger der Stadt und der Kirche fallen uns der Rektor der Schule, der spätere Oberpastor und Mitbegründer des deutschen Pietismus, Johann Heinrich Hävecker, sowie der Rechtsbeistand des Rates, der spätere Bürgermeister und Gutsbesitzer, Johann Friedrich Reichenbach, auf.
Das Kernstück der ausgestellten Dokumente bildet die handschriftliche Botschaft des Magistrats von 1845 an uns Heutige. Zuerst wurden uns die Umstände der Turmknopf-Öffnung und deren Bestückung erklärt. Dann gingen die Stadtväter auf die Verwaltungsreformen ein, bei denen Calbe 1815 Kreisstadt in der neuen preußischen Provinz Sachsen geworden war und 1831 eine Stadtverordneten-Versammlung erhalten hatte. Nachfolgend wurden alle Mitglieder des 4-köpfigen Magistrats und der 18-köpfigen Stadtverordneten-Versammlung namentlich aufgeführt.
Drei Pastoren mit Superintendent und Oberpastor Friedrich Scheele an der Spitze sorgten auch 1845 für die geistliche Betreuung der Stadtbürger und Vorstädter.
Bemerkenswert war der Fortschritt im Schulwesen der Stadt. 10 Lehrer unterrichteten in einer Knaben-Bürgerschule mit 5 Klassen und einer Töchter-Bürgerschule mit 5 Klassen sowie 2 Lehrer in der Volksschule für ärmere Einwohner mit einer Mädchen- und einer Jungen-Klasse. (Darüber hinaus gab es in der Bernburger und in der Schloss-Vorstadt zwei kleine, in dem Dokument nicht erwähnte dörfliche Vorstadtschulen.)
Wegen Überfüllung des Lorenz-Friedhofs musste die Stadt mit Hilfe einer privaten Schenkung ein neues Gelände kaufen und ausbauen, das östliche Drittel des jetzigen Stadt-Friedhofs. Die Vorstädter durften dort auch ihre Verstorbenen beerdigen.
Ein anderes Problem beschäftigte die Bürger von 1845 ebenfalls sehr stark. 1828 war die größte Glocke zersprungen, 12 Jahre lang hatten sie gesammelt und gespart, und 1840 konnten der Neuguss und die feierliche Einweihung erfolgen. Aber schon 1843 zersprang die „Große“ erneut. Nun wartete man noch einmal, bis wieder genügend Geld zusammen war. Wir wissen heute, dass der Guss 1852 erfolgte und die Glocke bis zu ihrer Einschmelzung im Ersten Weltkrieg ihren Dienst zur vollen Zufriedenheit versah.
Die Eisenbahn Magdeburg-Halle-Leipzig, an der Calbe mit dem Bahnhof Grizehne seit 1839 lag, sah man in dem Bericht als nutzlos für die Stadt an.
Als Hauptwirtschaftszweige Calbes wurden in dem vom Bürgermeister Kleist unterzeichneten Schreiben die Landwirtschaft und Industrie angegeben. 4 Tuchfabriken, 2 Zichorien-Manufakturen, und eine bedeutende Papier- und Mühlenfabrik existierten hier 1845. Zwei Zuckerfabriken hatte man im Schlossamt und in Gottesgnaden errichtet.
Die wirtschaftliche Lage der Kommune war schlecht. Jährlich brauchte die Kämmerei-Kasse 3000 Taler Zuschüsse. Dieses Manko mussten die Bürger durch höhere Steuern ausgleichen. Die Lebensmittelpreise waren auch in Calbe 1845 stark gestiegen. Hinzu kam hier die weitgehende Vernichtung der Ernte durch zwei verheerende Hochwasser. Deshalb rechnete der Magistrat mit einer weiteren Erhöhung der Nahrungspreise, was dann der tatsächlichen Entwicklung entsprach und eine der sozialökonomischen Ursachen der Revolution 1848 darstellte.

 

Ausstellungsbesucher

Die in der „Schönebecker Volksstimme“ bereits vorgestellten zwei Handschriften aus der „Zeitkapsel“ des nördlichen Turmknopfes der St.-Stephani-Kirche in Calbe/Saale sind zwar die lokalhistorisch bedeutenderen Schriften, stellen jedoch nur einen kleinen Teil der 27 Inhaltsstücke dar.
Die vier enthaltenen regionalen Zeitungen (- darunter das „Calbesche Kreisblatt“ -) sowie die national bedeutende „Berlinische (Vossische) Zeitung“ zeigten schon deutlich den Aufbau heutiger Zeitungen. Vielerorts, auch in Calbe, waren in den 1840-er Jahren Zeitungslesevereine entstanden, d.h. Klubs, in denen die neuesten Nachrichten diskutiert wurden.
1845 stand vorrangig das Thema der konfessionellen Opposition im Brennpunkt des journalistischen Interesses. Damals trat das starke Begehren nach Veränderungen und bürgerlichen Freiheiten oft noch in religiöser Verkleidung zutage. Ein Pfarrer aus Pömmelte, Leberecht Uhlich, hatte dem staatlich-klerikalen Neupietismus den Kampf angesagt und einen aufgeklärten Protestantismus gefordert. Der große Zustrom zu seiner „Lichtfreunde“-Bewegung lässt sich aus dem Streben breiter Bevölkerungsschichten nach Veränderung der politischen Zustände erklären. Ähnlich verhielt es sich in katholischen Gebieten mit den „Deutschkatholiken“.
Auch die Ausweisung von zwei Liberalenführern aus Preußen war ein aktuelles Schwerpunktthema, das die Zeitungen begierig aufgriffen.
Neben der mehr zaghaften Beteiligung an der Publikation der herausragenden politischen Tagesthemen sind es vor allem die lokalen Streiflichter, die uns bei der Lektüre des „Calbeschen Kreisblattes“ fesseln. So kann man unter anderem erfahren, dass Großunternehmer aus Calbe kommunale Einrichtungen aufgekauft oder gepachtet hatten, dass sich bei den Ackerbürgern Bankrotte und Versteigerungen erschreckend häuften und dass in der Stadtapotheke strenge Kontrollen in Bezug auf Arzneien, Preise und Kompetenz des Personals durchgeführt wurden.
Die liberale „Vossische Zeitung“ mit ihren renommierten Mitarbeitern vertrat das höchste journalistische Niveau der fünf hinterlegten Zeitungen. Ihre Themenvielfalt reichte von der Not der deutschen Weber bis zur Knebelung der Presse durch die Zensur und zur Notwendigkeit einer bürgerlichen Gesetzgebung.
Die 1840-er Jahre waren eine Zeit des geselligen Zusammenseins der Bürger, der Vereine und der Feste. Da politische Zusammenkünfte verboten waren, nutzte man jede Gelegenheit, um sich auch zu harmlosen Anlässen zu versammeln. Das Bedürfnis der Bürger nach Kommunikation und Solidarität unterstreichen einige Turmknopf-Dokumente, z. B. die Festschriften zur Feier der Friedhofseröffnung an der Neuen Sorge (heute: Arnstedtstraße) und zur Einweihung der neu gegossenen Großen Glocke. 1842 hatte man den 300. Jahrestag der Einführung der Reformation in Calbe begangen. Die Predigt des Superintendenten Scheele, die sich mit ihren Appellen für Toleranz, bürgerlichen Fleiß und soziales Engagement wohltuend von den Auffassungen des orthodoxen Luthertums des 16./17. Jahrhunderts unterschied, wurde vollständig als Broschüre im Turmknopf hinterlegt. Das Vereinsstatut des Schützenvereins von 1845 zeigte, dass sich auch die Handwerker und Kleinhändler in großer Zahl auf städtischer Vereinsbasis zu organisieren begannen. Einen Überblick über einen Teil der Bürgerschaft Calbes und deren Berufe gibt uns die Liste für die Ergänzungs-Wahl zur Stadtverordnetenversammlung von 1845. Frauen waren nicht wahlberechtigt. Deshalb tauchten bei den Namen der zu Wählenden lediglich Männer auf, und nur diejenigen, welche Grundbesitz vorzuweisen hatten. Die Vorstädter waren zur Stadtwahl nicht zugelassen, weil sie bis 1899 als Dorfbewohner galten. Am interessantesten im kommunalen Bereich ist für uns die Straßen-Ordnung, eine Broschüre mit einer Auflistung aller Verordnungen zum Verhalten in der städtischen Öffentlichkeit und zum gemeinschaftlichen Zusammenleben. Aus der Druckschrift wird nicht nur die mangelhafte soziale Hygiene ersichtlich, sondern auch der Straßenzustand und die damalige „Verkehrsregelung“.
Die amtlich-staatlichen Dokumente, die sich im Turmknopf befanden, waren immerhin so geschickt ausgewählt worden, dass sie auf die Hauptmängel im deutschen Vormärz hinwiesen: die fehlende deutsche Einheit (am Beispiel des Amtsblattes mit der Auflistung der vielen Elbzölle) und die fehlende bürgerliche Verfassung (am Beispiel der gedruckten Stellungnahme Friedrich Wilhelms IV. zum Testament seines Vaters). In weiteren amtlichen Blättern ging es unter anderem um erbetene Geldspenden für die Opfer der verheerenden Elbe- und Saale-Hochwasser 1845. Auf eine beliebte staatliche Einnahmequelle machen uns beigefügte Lotterielose aufmerksam, und einiges Kopfschütteln verursacht ein amtlicher Pass, ein Vorläufer unseres heutigen Personalausweises, bei dem zur Person außer Namen und Alter lediglich vermerkt ist: Statur mittel, Haare dunkelblond, eine Narbe auf der Stirn. Diese spärlichen Kennzeichen werden sicherlich für Tausende zutreffend gewesen sein.
Seit dem 30. März sind die Ausstellung der Dokumente und damit das Zeitfenster zum Jahr 1845 wieder geschlossen. Wer jedoch noch einen verspäteten Blick riskieren möchte, kann dies unter http://de.geocities.com/geschichtecalbes/ bzw. http://calberundgang.kilu.de/ (Station 5 am Schluss) oder im Archiv der Heimatstube Calbe tun.

 

Briefe regionaler 1848er Revolutionäre und Liberaler im Besitz des Heimatvereins Calbe/Saale

 

Erschienen am 22.11.2008, leicht verändert und gekürzt, unter der Überschrift "Revolutionäre aus Calbe - wie sie lebten und was sie dachten"

 

A. Weiß, U. Klamm und D. H. Steinmetz sprechen über den Inhalt der Liberalen-Briefe

Calbe und Schönebeck sind verbunden mit den Namen zweier bedeutender 1848er-Revolutionäre und Liberaler des 19. Jahrhunderts: Wilhelm Loewe und Ludwig Schneider. Besonders nach der Auswertung der von 1845 stammenden Dokumente, die bei der Öffnung des Nordturmknopfes der St.-Stephani-Kirche in Calbe 2007 zutage gekommen waren und dem großen Interesse, das sie hervorriefen, bemühte sich die Leitung des Heimatvereins Calbe, endlich auch in den Besitz von Originalschriftstücken Dr. Wilhelm Loewes zu gelangen. Zuerst stieß Vereins-Vorstandsmitglied Joachim Zähle als begeisterter Sammler historischer Dokumente bei Internetversteigerungen auf ein Briefangebot, das Wilhelm Loewe betraf, und bald darauf war ein Depotkauf mehrerer Schriftstücke möglich, bei dem es nicht nur um Loewe und seinen Freund Ludwig Schneider ging, sondern auch um andere zeitgenössische Gesinnungsgenossen. Weiterhin sind darin Schriftstücke eines Sohnes von Ludwig Schneider, des „Volks“-Arztes Dr. Oscar Schneider, sowie verschiedene andere Briefe weniger bekannter Personen enthalten.

Dankenswerterweise musste bei diesen Briefkauf-Aktionen nicht „die Katze im Sack“ erworben werden, sondern vielmehr erläuterte der Verkäufer im Vorhinein den Inhalt der Dokumente detailliert und sandte zur Ansicht entsprechende Ausschnitte als Kopien.

Die Auswertung der wichtigsten Briefe und Handzettel aus den Ankäufen und die Einordnung in den historischen Kontext nahmen ein dreiviertel Jahr in Anspruch, zumal die Schriftstücke nicht nur in „deutscher“ Kurrentschrift, sondern zudem oft mit einer eigenwilligen „persönlichen Note“ geschrieben waren. Erste Auswertungs-Ergebnisse liegen im Internet (s. unten) und bald auch in der Heimatstube Calbe vor.

Von größerem Umfang sind die Korrespondenzen Ludwig Schneiders mit seinem Freund August von Ende. Beide waren zu Beginn der 1840er Jahre Referendare in Erfurt gewesen. Der junge hessische Adlige hatte Schneider mit Trost und Tat zur Seite gestanden, als dessen Frau plötzlich gestorben war. August von Ende kümmerte sich nicht nur rührend um den verzweifelten Witwer, sondern auch um die beiden ein- und zweijährigen Söhne. Endes Briefe lassen interessante Einblicke in das gesellschaftliche und private Leben der adligen und bürgerlichen Beamten jener Zeit zu. In der Revolution 1848 trennten sich die politischen Wege der beiden Freunde. Während von Ende rechtsliberale Ansichten vertrat, ging Ludwig Schneider in der Revolutionszeit immer mehr auf linksliberale und demokratische Positionen über, wozu wohl dessen Bürgermeister-Tätigkeit in der aufstrebenden Industriestadt Schönebeck seit 1844 und eine neue Freundschaft beigetragen hatten, die ihn mit dem in Calbe an der Saale wirkenden Arzt Dr. Wilhelm Loewe verband.

Das bedeutsamste Schriftstück im Besitz des Heimatvereins ist die Kopie eines Briefes des Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Wilhelm Loewe an Ludwig Schneider, den Deputierten des in Berlin gerade aufgelösten Preußischen verfassungsgebenden Landtags, vom Dezember 1848. Seit Oktober befanden sich die gegenrevolutionären Kräfte bereits mit Repressionen auf dem Vormarsch, und die Revolution drohte zu scheitern. Der Brief an den Freund drückt nicht nur Loewes Wut und Enttäuschung, sondern auch seine Sehnsucht nach der deutschen Einheit und seine ungebrochene Hoffnung aus. „Ich halte noch nicht Alles für verloren, bin im Gegentheil der Meinung, daß wir im Augenblick nichts Übleres thun könnten, als uns muthlos oder voll Widerwillen zurückziehen“, schrieb Loewe.

Nach dem Sieg der fürstlichen Konterrevolution ging Ludwig Schneider mit seinen jugendlichen Söhnen vorübergehend in die Schweiz, wo ihn 1859 Briefe von Adolph Nicolai, seinem liberalen Kampfgefährten aus der Revolutionszeit, erreichten, er möge doch Bürgermeister in Calbe werden. Aber Schneider, dem die politischen und sozialen Verhältnisse in der Schweiz mehr zusagten, lehnte freundlich, aber bestimmt ab. Zur Zeit der beginnenden Reichseinigung „von oben“ in den 1860er Jahren kam W. Loewe aus dem USA-Exil zurück, und beide Freunde trafen sich nun in Berlin, wo sie als Abgeordnete tätig waren. Ein Brief Loewes an Schneider gibt uns einen Einblick in die politisch-philosophischen Diskussionen der beiden Liberalen. Das letzte uns vorliegende Schreiben Loewes und seiner Frau Louise von 1874, in dem sie sich für ein Exemplar von Schneiders neuem naturwissenschaftlichen Buch bedankten, führt uns u.a. die angegriffene Gesundheit und die Erschöpfung des Politikers Wilhelm Loewe vor Augen.

Mehr finden Sie in einer Pdf-Broschüre auf der Homepage „http://www.heimatverein-calbe.de/“. Die Originalbriefe sind in der Heimatstube Calbe/Saale einzusehen.

 

 

 

2009

 

Ein Anti-Terror-Erlass von 1630

Erschienen am 16.1.2009, am Schluss leicht verändert, unter der Überschrift "Im Jahre 1625 erlebte Calbe erstmals die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges"  

Soldaten beschießen eine Stadt im Dreißigjährigen Krieg (Zeichnung von 1950)

Ende des Jahres 2008 konnte der Heimatverein Calbe/S. durch sein Vorstandsmitglied Joachim Zähle erneut ein regionalgeschichtlich bedeutsames Dokument erwerben. Auch hierbei handelte es sich um ein Papier, dessen Inhalt bereits vor dem Kauf bekannt war. Es stellte einen Befehl des kaiserlichen Generals Virmondt-Neersen von 1630 dar. Darin wurde verfügt, Terrorisierungen der anhaltischen Bevölkerung zu unterlassen, um die Kontributionen für den Erhalt der Armee nicht zu gefährden.

Der vom Niederrhein stammende und in den Niederlanden ausgebildete Johann Virmondt zu Neersen war vom protestantischen Calvinismus zum Katholizismus übergetreten und konnte zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges unter Tilly Karriere machen. Der Kaiser hatte ihn in den Freiherrenstand erhoben und 1630 zum General der kaiserlichen Truppen befördert.

1625 war Calbe erstmals mit den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges in Berührung gekommen. Der Administrator des Magdeburger Landes, Markgraf Christian Wilhelm von Brandenburg, musste fliehen, nachdem sein Verbündeter, der dänische König Christian II., von Wallenstein und Tilly geschlagen worden war.  Im August 1630 kehrte Markgraf Christian Wilhelm mit der Armee des Schweden-Königs Gustav Adolf II. zurück. Während die schwedischen Truppen noch in Pommern verweilten, ließ der Administrator im Magdeburger Land hastig in verschiedenen befestigten Schlössern und Städten Söldner stationieren. Es war für die starken katholischen Einheiten jedoch ein leichtes, diese protestantischen Stützpunkte einzeln auszuheben und zu vernichten, zumal es Christian Wilhelm an strategischen Fähigkeiten mangelte.

Auch in die Schlossfestung Calbe entsandte der Administrator eiligst 750 Musketiere, die aber sofort von zwei Regimentern der Kaiserlichen unter General Virmondt-Neersen verfolgt wurden. Ein Desaster bahnte sich an.

Acht Tage ließ der General die Stadt und das Schloss sturmreif schießen, bevor es den Angreifern am 22. September 1630 um 11 Uhr gelang, durch das Nordtor in die Stadt einzudringen. Nun begannen die grauenvollsten 21 Stunden in der  Neuzeitgeschichte Calbes, die Überwältiger raubten, vergewaltigten und mordeten. Das Plündern und Schänden dauerte bis zum nächsten Morgen 8 Uhr, als durch ein Signal der Befehl zum Beenden des Terrors gegeben wurde.

Ähnlich erging es dem nahe gelegenen Staßfurt. Dort an der Grenze zu den anhaltischen Fürstentümern richtete General Virmondt sein Hauptquartier ein. In dem betreffenden Dokument befahl er allen seinen Truppenangehörigen bei Androhung von Bestrafung, jegliches Ausplündern, Berauben und Drangsalieren der anhaltischen Bevölkerung zu unterlassen. Wahrscheinlich steckte dahinter die Tatsache, dass der junge protestantische Fürst von Anhalt-Bernburg während seiner Gefangenschaft in Wien ein Freund und Vertrauter des (katholischen) Kaisers geworden war. Auch so etwas gab’s! Unser Magdeburger Land war in den Befehl nicht einbezogen. Schauen wir uns an, was in den anhaltischen Fürstentümern verboten war, dann können wir uns vorstellen, was den Menschen hier außer den „legalen“ Kontributionen und Schanzarbeiten durch die Besatzer „blühte“: Plünderungs-Streifzüge, Gelderpressungen, Pferderequirierungen, erzwungene Spanndienste, wilde Einquartierungen usw.

Nachdem Virmondt 1631 mit seiner Truppe an der Belagerung und Zerstörung Magdeburgs  teilgenommen hatte, geriet auch er mit dem Übergang der militärischen Initiative an die Schweden zunehmend in Bedrängnis. Seine bei Mansfeld von einem Schwedenverband eingeschlossenen Soldaten gingen in schwedische Dienste über, und Freiherr Virmondt-Neersen nahm 1632 seinen Abschied. Gleich nach seiner Rückkehr wurde er in Köln vor der Kirche seines Dankgottesdienstes erschossen. Akten über den Mord gibt es dubioserweise nicht.

Die Lasten und Leiden durch die ständig wechselnden Besatzungen wuchsen auch in Calbe ständig. Nach Kriegsende war die Einwohnerzahl der Stadt auf die Hälfte des Vorkriegsstandes gesunken, über 30 Prozent der Häuser standen ruiniert und leer.

Ausführlicher (u.a. über den Dokument-Text) können Sie sich in einem Pdf-Aufsatz unter  http://heimatverein-calbe.de informieren.